Schulabgänger und Rentner sollten sich für die Gesellschaft engagieren, sagt Richard David Precht. Er will sie sogar dazu verpflichten. Kann diese Idee Menschen davor bewahren, »Querdenker« zu werden?
Herr Precht, in Ihrem neuen Buch schreiben Sie über die Pflichten des Staatsbürgers. Ist der Begriff Pflicht nicht von gestern?
Aber nein! Der Begriff ist für viele heute negativ besetzt, das stimmt. Er klingt in ihren Ohren lustfeindlich. Aber das finde ich schade. Eine Pflicht zu erfüllen, kann eine gute Erfahrung sein. Wer sich gegen Pflichten sträubt, will oft nur nicht erwachsen werden.
Warum ruft schon der Begriff solche Widerstände hervor?
Wir leben in einer hoch individualisierten Gesellschaft, wo es zum Menschsein dazugehört, immer ganz genau zu wissen, was richtig für einen ist und was falsch. Und jetzt kommt plötzlich der Staat in der Coronakrise und sagt: »Nein, nein, nein, es ist völlig egal, was du persönlich denkst. Du musst nun folgende Regeln befolgen, bis in dein privatestes Umfeld hinein.« Das ist für viele Menschen eine völlig ungewohnte Situation.
Wer eine Pflicht erfüllt, gibt einem äußeren oder inneren Druck nach. Er handelt nicht aus freien Stücken.
Das muss nicht so sein. Es gibt keinen prinzipiellen Widerspruch zwischen Pflichterfüllung und Vergnügen. Für Kant besteht die Pointe darin, so einsichtig zu werden, dass man seine Pflicht gern tut. Aber klar: Häufig ist es im Leben so, dass wir uns einer Notwendigkeit beugen müssen. Darum geht es mir in meinem Buch: Dass man sich als Staatsbürger gewahr wird, dass man staatsbürgerliche Pflichten hat – und diese auch erfüllen muss. Momentan zum Beispiel die Maskenpflicht.
Macht es für Sie einen Unterschied, aus welchem Motiv heraus jemand die Maske trägt: aus Angst vor Strafe, aus Angst vor den kritischen Blicken der Mitbürger oder aus echter Überzeugung?
Aus Sicht des Staates ist das egal, aus Sicht des Philosophen natürlich nicht. Aber ich glaube, dass die Mehrheit der Deutschen die Maske aus echter Einsicht trägt und aus Solidarität mit den Schwachen. Die allerwenigsten haben Angst vor Strafen. Warum auch? Wenn ich hier in Düsseldorf morgens auf den Karlsplatz gehe, gibt es dort immer Leute ohne Maske, und es gibt auch immer Ordnungskräfte, die sie sehr freundlich ermahnen. Niemand muss dort Angst haben, dass ihm jemand mit weißrussischer Strenge eine große Strafe aufbürdet.
Hier in Hamburg galt die Maskenpflicht zeitweise auch auf Spielplätzen und beim Joggen in Parks.
Möglicherweise ist das nur sehr eingeschränkt sinnvoll. Wichtig ist: Es gibt Situationen, in denen ich im öffentlichen Interesse eine Regel befolgen sollte, auch wenn sie nicht eins zu eins mit meinen Überzeugungen übereinstimmt.
Manche reagierten in der Krise wie Kinder, »die sich völlig unverschuldet zu Stubenarrest verdonnert sehen«, schreiben Sie mit Blick auf die »Querdenker«-Szene. Reagieren nicht andere wie Kinder, die alles richtig machen wollen, egal wie unsinnig die einzelnen Maßnahmen auch sein mögen? Coronaleugner hier, Coronastreber dort?
Wer ein guter Staatsbürger ist, muss nicht gleichzeitig ein Freund jedes Regierungspolitikers sein. Er muss nicht mal mit jeder Maßnahme einverstanden sein, die er befolgt. Aber er muss sie befolgen, sofern das Grundmotiv gut ist und der Menschenwürde nicht widerspricht. Und der Schutz der Schwachen ist ein wirklich sehr gutes Motiv.
Das große Ziel des Lebensschutzes verbietet jede Kritik an der einzelnen Maßnahme?
Die Kritik nicht. Aber den Verstoß. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Ich selbst fand auch die eine oder andere Anti-Corona-Maßnahme nicht besonders sinnvoll, die 15-Kilometer-Regel zum Beispiel. Aber das heißt ja nicht, dass ich das, was ich ganz persönlich, Richard Precht, für richtig oder für falsch befinde, zum Maßstab meiner Handlungen machen sollte. Wenn mir vom Staat rechtlich vorgeschrieben wird, mich an etwas zu halten, um die Schwachen zu schützen: Dann tue ich das. Ich zahle ja auch nicht so viel Steuern, wie es meiner Meinung nach angemessen wäre, sondern wie es von mir verlangt wird. Also sollte ich jedenfalls.
Manch Pflichtbewusster verspürt dieser Tage die Pflicht, auch die Pflichtvergessenen für die gute Sache zu gewinnen. Zu Recht?
Deutschland hat eine traurige Kultur des Denunziantentums. Das war schon im Kaiserreich so, das war erst recht im »Dritten Reich« so, das war auch in der DDR so. Und diese Leute gibt es auch in der Bundesrepublik. Sie haben momentan viel Spaß, weil sie sich in der Übererfüllung von Pflichten besonders toll vorkommen.
Das Dagegensein, der Regelbruch, der zivile Ungehorsam gehörten früher einmal zum Habitus des linken Milieus. Heute sehen wir dort das große Lehrstück vom Einverstandensein.
Der Staat hat heute ein viel freundlicheres Gesicht als früher. Polizisten sind nicht mehr das, was sie in meiner Jugend waren. Sie taugen nicht mehr zum Feindbild. Und außerdem ist Solidarität mit den Schwachen natürlich ein starkes Motiv, das jedes linke Herz höherschlagen lässt. Aber Sie haben recht: Die Verkehrung des Rechts-Links-Schemas ist ein Treppenwitz dieser Pandemie. Dass sich ausgerechnet die AfD als Gegner eines starken Staates inszeniert, als Verteidiger der Grundrechte und der Freiheit, das müsste eigentlich jeden Nazi erschüttern. Ich warte noch auf die Gründung des Vereins Nazis für Grundrechte.
Geht es mit der Moral in Deutschland während der Krise bergab oder bergauf?
Die allermeisten Menschen haben sich bislang an die Regeln gehalten. Und ich glaube auch, dass die Einsicht noch immer ziemlich hoch ist. Trotzdem mache ich mir Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie. Was passiert denn, wenn die Zahl der Menschen, die ihre staatsbürgerlichen Pflichten ernst nimmt, weiter sinkt? Der liberal-demokratische Staat ist darauf angewiesen, dass seine Bürger seine Werte teilen. Er kann sie in letzter Konsequenz nicht erzwingen.
Was könnte der Staat tun, um das Pflichtbewusstsein zu fördern?
Wer sich in der Coronakrise entsolidarisiert, leistet auch sonst relativ wenig für die Gesellschaft: Coronaleugner, so meine Vermutung, arbeiten selten auf Intensivstationen. Und »Querdenker« sind eher nicht ehrenamtlich engagiert. Ich schlage daher zwei Gesellschaftsjahre vor: eins nach der Schule und eins beim Renteneintritt. Damit könnte man sehr viel Gutes bewirken: nicht nur bei denen, denen geholfen wird, auch bei denen, die helfen.
Ein Pflichtdienst bewahrt die Menschen davor, »Querdenker« zu werden?
Das ist nicht mein einziges Motiv, aber ich erwarte mir diesen positiven Nebeneffekt. Die Erfahrung, anderen zu helfen, strahlt auf den eigenen Charakter ab. Je mehr Menschen eingebunden sind in soziale Tätigkeiten, umso mehr Menschen werden sich solidarisch gegenüber anderen verhalten.
Ist Zwang nicht kontraproduktiv? Und weckt erst recht die Staatsskepsis und den Widerspruchsgeist?
Denken Sie an den Aufruhr, als das Rauchverbot in Restaurants eingeführt wurde. Heute kann sich die Mehrheit der Menschen das gar nicht mehr anders vorstellen. Das Gleiche würde wieder passieren: Am Anfang regen sich einige wahnsinnig auf. Vor allem diejenigen, die sich nicht vorstellen können, dass die persönliche Einschränkung auch für sie positive Folgen hat.
Welche Folgen sollen das sein?
Wer Kröten über die Straße hilft oder auf einer Kinderkrebsstation den kleinen Patienten vorliest, wird vielleicht ein ganz neuer Mensch. Es geht darum, Selbstwirksamkeit zu erfahren.
Haben Sie selbst als junger Mann einen Pflichtdienst geleistet?
Ich habe in den Achtzigerjahren meinen Zivildienst als Gemeindehelfer in der evangelischen Kirche gemacht. Meine Hauptaufgabe bestand darin, mit älteren Damen Schach zu spielen, für sie einkaufen zu gehen oder ihnen die Kohlen aus dem Keller zu holen. Mich hat das sehr geprägt.
Ihr Vorschlag eines neuen Pflichtdiensts für junge Männer und Frauen wird in einer alternden Gesellschaft vermutlich viele Befürworter finden. Aber ein Pflichtdienst für Rentner?
Ich will keine Achtzigjährigen verpflichten, sondern Menschen Mitte 60. Und ich schlage für dieses zweite Gesellschaftsjahr auch nur 15 Stunden pro Woche vor, also drei halbe Tage. Im Gegenzug bekämen die Senioren viel positive Resonanz.
Sie haben vor zehn Jahren schon einmal einen ähnlichen Vorschlag gemacht, mit wenig Erfolg. Warum jetzt ein neuer Anlauf?
Ich halte das für eine gute Idee. Und Schopenhauer hat mal geschrieben, dass alle guten Ideen drei Stufen durchlaufen: Erst werden sie verlacht. Dann bekämpft. Aber wenn sie erst Mal eingeführt sind, mag sich keiner mehr vorstellen, dass es jemals anders war.
Haben Sie sich verlacht gefühlt beim ersten Anlauf?
Ein bisschen veralbert, ja. Als ich damals bei Anne Will saß, hat die Redaktion in einem Einspieler bevorzugt Menschen über 80 mit körperlichen Gebrechen gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, einen Pflichtdienst zu machen. Andere Redaktionen haben Passanten ein Foto von mir gezeigt und gefragt: »Kennen Sie diesen Mann? Der will Sie jetzt in die Zwangsarbeit schicken.« Aus dieser Verlachungsphase sind wir nun raus. Wir treten in die Bekämpfungsphase ein.
Die dann wieder zehn Jahre lang dauert?
Man muss lange überlegen, bis einem einfällt, welcher gesellschaftliche Fortschritt von Deutschland ausgegangen ist. Die Deutschen werden warten, bis die Skandinavier das machen. Im Ernst: Das wird bei uns die nächsten 20 Jahre nicht umgesetzt. Und wenn doch, dann hoffe ich, dass niemand auf die Idee kommt, es nach mir zu benennen. Das Precht-Jahr. Ich möchte nicht das Schicksal von Peter Hartz erleiden, der mit Hartz IV in die Geschichte eingeht.
Gehen wir doch mal die Gegenargumente durch. Viele Menschen sind körperlich und psychisch ausgelaugt, wenn sie das Rentenalter erreichen. Diese wollen sie zwangsverpflichten?
Die kann man ausmustern.
Im Unterschied zu jungen Menschen blicken alte Menschen auf eine Lebensleistung zurück. Reicht das nicht?
Die allermeisten Rentner haben nicht in erster Linie fürs Gemeinwohl gearbeitet, sondern für sich selbst. Sie haben Steuern bezahlt, klar. Aber wer am Schalter der Sparkasse sitzt, sitzt dort in aller Regel nicht aus Altruismus. Da sollte niemand seine eigene Bilanz fälschen.
Viele Menschen sehnen den Renteneintritt herbei, um sich den Enkeln widmen zu können. Wollen Sie den Familien die Oma und den Opa nehmen?
Bei Ihnen hört sich das so an, als wolle ich die Rentner vom 63. Lebensjahr bis zu ihrem Tode zwangsrekrutieren. Wir reden tatsächlich nur über ein Jahr und wir reden nur über 15 Stunden in der Woche. Da bleibt sehr viel Zeit für die Enkel.
Viele Rentner sind darauf angewiesen, sich etwas dazuzuverdienen. Was ist mit denen?
In Berlin ist gefühlt jeder dritte Taxifahrer ein Rentner, der von seiner Rente nicht leben kann. Ein skandalöser Zustand. Ich votiere daher schon lange für eine Mindestrente, noch besser wäre ein bedingungsloses Grundeinkommen. Aber abgesehen davon: Wer 15 Stunden in der Woche für die Gemeinschaft arbeitet, kann auch noch drei Tage Taxi fahren.
In Artikel 12 des Grundgesetzes heißt es: »Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.« Den Artikel schaffen wir dann ab?
Das Grundgesetz ist da nicht so eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint. Sofern der Staat nicht bestimmte Gruppen durch einen Pflichtdienst bestraft, so wie damals im »Dritten Reich«, solange er seine Bürger zudem nicht wirtschaftlich ausbeutet, solange ist ein Pflichtdienst möglich. Ich denke an eine Erweiterung allgemeiner Bürgerpflichten.
Wie wollen Sie Rentner sanktionieren, die sich dem Pflichtdienst verweigern? Mit Rentenkürzung?
Bei den Wehr- und Zivildienstleistenden früher kamen die Feldjäger.
Das meinen Sie nicht ernst.
Nein, natürlich nicht! Ich glaube, wir brauchen keine Feldjäger. Ich glaube, dass die allermeisten Senioren den Dienst freiwillig übernehmen würden. Im Alter von 60 oder 65 sind Menschen in der Regel ja doch etwas reifer und vernünftiger als mit 18. Und die Leute, die partout einen Ekel davor haben, anderen zu helfen, die kann man aus psychischen Gründen vom Dienst befreien. Ich sehe eher etwas anderes auf uns zukommen: Die Senioren werden so positive Erfahrungen machen, sie werden so stolz sein auf das, was sie noch leisten, dass sie nach einem Jahr nicht wieder aufhören wollen.
Sehen Sie Ihre Idee auch als Beitrag zu mehr Generationengerechtigkeit?
In der Pandemie haben jüngere Menschen, die zum allergrößten Teil durch das Coronavirus nicht allzu gefährdet waren, sich solidarisch verhalten und zugunsten älterer Menschen auf viel verzichtet. Wir sollten daher tatsächlich überlegen: Was könnte der solidarische Beitrag der Alten sein? Ich denke da aber weniger an das Gesellschaftsjahr, das ich ja für Alte und Junge vorschlage. Ich denke an Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe. Die jüngere Generation wird die volle Ladung abkriegen, die ältere Generation kaum etwas. Dabei sitzt sie zum Teil noch in Entscheiderpositionen. Und auch über ihren Konsum hat sie riesigen Einfluss. Da ist viel Raum für ausgleichende Gerechtigkeit.
Wie schauen Sie als Philosoph auf die öffentlichen Debatten in diesem Coronajahr? Der Ethikrat zum Beispiel war noch nie so präsent.
Das liegt daran, dass die Regierung so orientierungslos ist. Sie ist ernsthaft auf Rat angewiesen. Sie hört ja sogar zu, wenn Philosophen oder Soziologen sich äußern.
Erleben wir eine Renaissance des öffentlichen Intellektuellen?
Wünschenswert wäre es. In den Neunziger- und den Nullerjahren waren die wichtigsten Experten der Gesellschaft immer Wirtschaftswissenschaftler. Der Nachfolger von Jürgen Habermas, so könnte man sagen, war Hans-Werner Sinn. Aktuell ist die Bedeutung der Ökonomen geringer und die Bedeutung all der anderen Wissenschaftler, die sich kluge und sinnvolle Gedanken machen, etwas größer. Aber ich fürchte leider, das endet, sobald die Pandemie endet.
Nachzulesen auf www.spiegel.de.