Süddeutsche Zeitung, 12./13. Mai 2021, Nr. 108, S. 19.
Die ehemaligen Kanzlerkandidaten von Union und SPD schlagen Alarm. Sie fürchten "massive gesellschaftliche Verwerfungen" und fordern gemeinsam mit anderen Autoren von der nächsten Bundesregierung eine zukunftsfähige Finanz- und Geldpolitik für Deutschland und Europa.
Sie haben über Monate konferiert und wieder konferiert. Haben an jeder Formulierung gefeilt und am Ende ein Papier erarbeitet, das nun in der "Süddeutschen Zeitung" erscheint. Edmund Stoiber (CSU) und Peer Steinbrück (SPD), beide frühere Kanzlerkandidaten ihrer Parteien und langjährige Ministerpräsidenten, sorgen sich um die Finanz- und Geldpolitik nach der Bundestagswahl, und sie sorgen sich sehr. Sie rechnen mit rasch steigender Inflation, fürchten "sozialen Sprengstoff" und warnen vor "massiven gesellschaftlichen Verwerfungen" und weiterer politischer Polarisierung. In der Pandemie sind alle Hemmungen vor immer neuen Schulden gefallen. Die Regierung Merkel/Scholz erreicht Jahr für Jahr neue Rekordschulden, die EU will bis 2026 mehr als 800 Milliarden Euro Schulden für den Corona-Fonds aufnehmen. Die EZB betreibt ohnehin eine Politik der extremen Geldvermehrung. Wird die nächste Bundesregierung, wer immer sie stellt, die Kraft haben, wieder zu einer soliden und nachhaltigen Finanz- und Geldpolitik zurückzukehren? Stoiber, Steinbrück und Mitstreiter haben große Zweifel und stellen weitgehende Forderungen an die Politik und die Zentralbank. Das Papier entstand in einem breiten und offenen, manchmal kontroversen Meinungsaustausch mit aktiven Amtsträgern, zum Beispiel mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und Bundesbankpräsident Jens Weidmann, auch der langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel diskutierte mit. "Ihr müsst da dranbleiben", hat Schäuble den Autoren mit auf den Weg gegeben. (mbe)
Erwartungen an eine zukunftsfähige Finanz- und Geldpolitik in Deutschland und Europa
Die jahrelange und auch in Zeiten wirtschaftlichen Wachstums betriebene ultraexpansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die wirtschaftliche Entwicklung in einer Reihe von Mitgliedsstaaten der Währungsunion kurzfristig stabilisiert. Unübersehbar sind jedoch die langfristigen Risiken, die mit dem massiven Geldüberhang einhergehen, den sie geschaffen hat. Der Geldüberhang erzeugt nicht nur ein Inflationspotenzial und gefährdet die langfristige Finanzstabilität. Mehr noch: Weil er großenteils durch den Erwerb von Staatspapieren entstand, weckt er in den Mitgliedsstaaten des Euroraums zudem die Illusion, auch ohne wachstumsstärkende Reformen steigende Staatsausgaben dauerhaft zu Null- und Negativzinsen finanzieren zu können. Zuvor hatte die EZB die Mitgliedsstaaten bereits als Eigentümer der nationalen Zentralbanken in die Haftung für unbegrenzte Garantieversprechen genommen und von den Regierungen zur Vermeidung von Abschreibungsverlusten immer weiterführende Schritte in eine Transferunion gefordert.
Zur Bewältigung der massiven wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie haben die Mitgliedsstaaten zwischenzeitlich einen riesigen Nebenhaushalt mit gesamtschuldnerischer Haftung ("europäischer Wiederaufbaufonds") beschlossen, der sich aus Zuschüssen und Krediten zusammensetzt. Einige Mitgliedsstaaten sehen darin die Gelegenheit, ihre bei Beginn der Währungsunion nicht durchsetzbaren Forderungen nach gemeinschaftlicher Haftung und umfassenden Transfersystemen voranzutreiben und den für Notsituationen geschaffenen Europäischen Stabilitätsmechanismus zu übergehen.
Das Handeln der EZB erweckt den Eindruck, die Euro-Zone könne nur durch den Bruch der von den Mitgliedsstaaten selbst formulierten Regeln (zum Beispiel Maastricht-Kriterien, No-Bail-out, Verbot der monetären Staatsfinanzierung) aufrechterhalten werden. Um die Euro-Zone zukunftsfähig zu gestalten, ist jedoch ein funktionierendes regelbasiertes, kontrollier- und sanktionierbares Regelwerk notwendig. Zielsetzung muss sein, die Wettbewerbsfähigkeit aller Mitgliedsstaaten zu erhöhen, um sich gemeinsam und ökonomisch erfolgreich den wirtschaftlichen, aber auch geopolitischen Herausforderungen zu stellen. Nur so kann die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses, die wir für unabdingbar halten, weiterhin erfolgreich bleiben.
Schon jetzt mehren sich die Anzeichen für eine zunehmende Inflation
Sollte die EZB ihre ultralockere Geldpolitik dauerhaft fortführen, sehen wir mittelfristig sechs massive Gefahren:
- Schon jetzt mehren sich die Anzeichen für eine zunehmende Inflation. Will die EZB ihrem Preisstabilitätsziel gerecht werden, müsste sie über kurz oder lang die Staatsanleihekäufe rückabwickeln und die Zinsen behutsam erhöhen. Das könnte in den betroffenen Mitgliedsstaaten schwere Verwerfungen für die Staats- und auch für die Bankenfinanzierung auslösen, wenn sie sich nicht durch entschlossene Bemühungen zur Konsolidierung ihrer Budgets frühzeitig darauf einstellen. Lässt die EZB die Inflation hingegen laufen, wären massive gesellschaftliche Verwerfungen und Verteilungsdisparitäten die Folge. Steigende Verbraucherpreise treffen vor allem weniger vermögende und einkommensschwache Menschen. Die Historie zeigt, dass vergleichbare Konstellationen sozialen Sprengstoff bergen und zu weiterer politischer Polarisierung führen können.
- Eine ultraexpansive Geldpolitik kann zu einer strukturellen Wachstumsschwäche führen. Dauerhafte Negativzinsen der EZB verfestigen nicht mehr wettbewerbsfähige wirtschaftliche Strukturen und verringern den Anreiz für die EU-Staaten, durch strukturelle Reformen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
- Die erfolgreiche deutsche soziale Marktwirtschaft wird durch Staatseingriffe ausgehebelt, die zu Gewöhnungseffekten führen. Mittlerweile hat sich eine Anspruchshaltung verfestigt, dass der Staat alle wirtschaftlichen Risiken abzudecken hat und für umfassende Sicherheit verantwortlich ist, hinter die Selbstverantwortung und der marktwirtschaftliche Auswahlprozess zurücktreten.
- Das "Rundum-sorglos-Paket" der EZB entmündigt die Politik, indem es die notwendige politische Prioritätensetzung in der Ausgabenpolitik untergräbt und damit letztlich zu finanzieller Überdehnung der Staaten führt.
- Das europäische Bankensystem wird geschwächt. Seit der Finanzkrise von 2008/2009 haben europäische Banken im internationalen Vergleich deutlich den Anschluss verloren. Gerade die Finanzkrise hat jedoch gezeigt, dass ein stabiles und international wettbewerbsfähiges Bankensystem eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine starke Positionierung des Wirtschaftsraums Europa im Verhältnis zu den großen geopolitischen Wirtschaftsmächten ist.
- Die EU-Kommission nimmt erstmals in großem Stil Schulden auf, die von den Mitgliedsstaaten gemeinsam garantiert werden. Sollten diese nicht eine einmalige Ausnahme bleiben, wird der Zusammenhalt in der Europäischen Union gefährdet. Eine Schuldenaufnahme durch die EU mit Gemeinschaftshaftung wird immer wieder zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen zwischen "armen" und "reichen" Mitgliedsstaaten führen und die Einheit und Solidarität in Europa gefährden. Der Zusammenhalt Europas wäre im Übrigen auch gefährdet, wenn sich die EZB in einem Umfeld steigender Inflationsraten zwischen dem Ziel der Preisniveaustabilität und einer weiteren Staatsfinanzierung entscheiden müsste.
Um diesen Gefahren wirksam begegnen zu können, sehen wir als Königsweg nur die alsbaldige Rückkehr zu einer soliden, nachhaltigen Finanz- und marktwirtschaftlichen Wachstumspolitik.
Die Neuverschuldung muss schrittweise zurückgeführt werden
Wir erwarten von der künftigen Bundesregierung,
- ein Konzept zu erarbeiten, das eine schrittweise Rückführung der Neuverschuldung und eine Wiedereinhaltung der verfassungsmäßigen Schuldenbremse vorsieht, sobald die konjunkturelle Lage es erlaubt. Eine Abschaffung der Schuldenbremse wäre auch unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit nicht akzeptabel;
- ebenfalls im Sinne der Generationengerechtigkeit eine nationale Wachstumsstrategie zu entwickeln, die unter anderem ein Belastungsmoratorium für Unternehmen und Bürger, eine international wettbewerbsfähige Steuerpolitik, eine an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierte Klimaschutzpolitik sowie Investitionen in die Zukunftssicherung des Standorts Deutschland - konkret in Forschung, Bildung und Infrastruktur - umfasst;
- auf europäischer Ebene eine Einhaltung der Europäischen Verträge zu verlangen, insbesondere der "No Bail-out"-Klausel (Art 125 AEUV) und des Verbots der monetären Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV);
- sich dafür einzusetzen, dass der europäische Wiederaufbaufonds einmalig auf die Überwindung der Corona-Krise beschränkt bleibt und keine modellhafte Dauereinrichtung wird. Die neuen europäischen Verbindlichkeiten müssen entsprechend ihren Garantieanteilen der nationalen Staatsverschuldung zugerechnet werden. Eine gesamtschuldnerische Haftung ist auszuschließen. Die Schulden sind nicht erst bis 2058 zurückzuzahlen, sondern deutlich früher, um wieder finanziellen Spielraum für die Bewältigung künftiger wirtschaftlicher Rückschläge zu schaffen;
- auch von anderen Staaten der Euro-Zone eine Reformagenda zur Verbesserung beziehungsweise Wiederherstellung der nationalen und damit der gesamten Wettbewerbsfähigkeit der Euro-Zone einzufordern. Die stark von der Corona-Pandemie getroffenen Länder wie Italien oder Spanien haben ein Recht auf europäische Solidarität. Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Deshalb muss die Bundesregierung auf einem wirksamen Kontrollmechanismus bestehen (zum Beispiel durch den Ecofin-Rat oder die EU-Kommission), der sicherstellt, dass die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds für wachstumsfördernde und nicht für konsumtive Zwecke eingesetzt werden. Nur so kann der Fonds als Brücke dienen, um der EZB den Weg aus der dauerhaften Rolle als Nothelfer zu ermöglichen;
- sich für eine Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts einzusetzen mit dem Ziel einer höheren Effizienz, Vereinfachung und Transparenz der gesamten Verschuldung der EU-Länder, einschließlich der nationalen Anteile an der durch den Wiederaufbaufonds verursachten EU-Verschuldung.
Die EZB muss sich wieder auf auf ihre Kernaufgabe besinnen
Wir erwarten von der Europäischen Zentralbank,
- dass sie sich auf ihre Kernaufgabe der Sicherung der Preisniveaustabilität konzentriert. Ein in Notenbankkreisen debattiertes symmetrisches Inflationsziel stünde nicht im Einklang mit den EU-Verträgen. Damit sich die Finanzmärkte rechtzeitig darauf einstellen können, sollte sie in ihrer öffentlichen Kommunikation klarstellen, dass sie willens ist, das Volumen der Staatsanleihekäufe zunächst schrittweise zu senken und nach Überwindung der Corona-Krise den Bestand der von ihr gehaltenen Staatsanleihen und die aufgeblähte Geldmenge wieder zu reduzieren;
- dass sie bis dahin die Staatsanleihekäufe strikt nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken ausrichtet und nicht bestimmte hochverschuldete Länder bevorzugt. Keinesfalls darf die EZB Forderungen nachgeben, ihre erworbenen Staatsanleihen vollständig oder teilweise abzuschreiben oder ihnen eine Ewigkeitsgarantie zu geben, um so die Staaten finanziell zu entlasten;
- dass sie die vom Bundesverfassungsgericht angemahnte Verhältnismäßigkeitsprüfung umfassend und regelmäßig wahrnimmt und vor allem aktuell über die immensen Risiken und Nebenwirkungen der Geldpolitik informiert. Dazu zählen Risiken für die Finanzstabilität, ein nicht zu unterschätzendes Inflationspotenzial, was sich schon jetzt bei den Vermögenspreisen zeigt, aber auch negative Auswirkungen zum Beispiel auf Spareinlagen und Altersvorsorge;
- dass sie im Rahmen ihrer Unterstützung für den "European Green Deal" auf die bevorzugte Behandlung "grüner" Unternehmensanleihen verzichtet, sowohl was den Erwerb als auch die Bewertung bei ihrer Pfandpolitik betrifft. Die Bewältigung des Klimawandels ist Sache der demokratisch legitimierten Politik, nicht der EZB, der die EU-Verträge kein Mandat für eine solche Politik gewähren und die sich vor den Wählerinnen und Wählern nicht zu verantworten hat.
Die Autoren: Edmund Stoiber war bayerischer Ministerpräsident, Peer Steinbrück war Bundesfinanzminister, Günther Oettinger war Vizepräsident der EU-Kommission, Hans-Werner Sinn war Präsident des Ifo-Instituts, Franz-Christoph Zeitler war Vizepräsident der Deutschen Bundesbank, Kurt Faltlhauser (CSU) war bayerischer Finanzminister, Marcus Vitt ist Vorstandssprecher der Bank Donner & Reuschel, Reinhold Bocklet war bayerischer Europa-Minister, Nikolaus von Bomhard ist Aufsichtsratsvorsitzender der Münchener Rück und der Deutschen Post, Paul Achleitner ist Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, Linda Teuteberg war FDP-Generalsekretärin, Roland Koch ist Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, Wolfgang Reitzle ist Chairman von Linde, Christine Bortenlänger ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Deutschen Aktieninstituts.
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