„Targetsalden durch Gold ausgleichen“

Hans-Werner Sinn

WirtschaftsWoche, 8. Juni 2021.

Bei den Targetsalden zwischen den Notenbanken der Euro-Zone sind die Forderungen der Bundesbank weiter gestiegen. Ökonom Hans-Werner Sinn hält das für gefährlich. Sein Gegenvorschlag: Defizitländer etwa in Südeuropa sollten ihre Targetverbindlichkeiten mit eigenem Vermögen tilgen – zum Beispiel Gold.

Herr Sinn, die so genannten Target-Forderungen der Bundesbank sind im Mai um rund 52 Milliarden Euro auf 1,077 Billionen Euro gestiegen. Was sind die Gründe für den Anstieg?

Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht. Es gibt seit Monaten ein kleineres Hin und Her bei den Salden, das viele Ursachen haben kann. Seit klar ist, dass der Wiederaufbaufonds der EU kommt, steigen die Salden im Trend nicht mehr, sondern verharren auf hohem Niveau oberhalb der Billion – mit Fluktuationen in beide Richtungen.

Sie haben in der Vergangenheit immer wieder vor massiven finanziellen Risiken für Deutschland gewarnt. Viele andere Ökonomen sehen in den Targetsalden jedoch kein Problem. 

Viele, die sich kritisch äußern, durchblicken die Sache leider nicht – oder wollen sie aus politischen Gründen nicht durchblicken. Da gibt es ganz prominente Beispiele. Die Salden messen automatische, unbesicherte Überziehungskredite zwischen den Notenbanken im Eurosystem, weil es keine Konten der Einzelnotenbanken gibt, auf denen sie Guthaben beim Eurosystem gegen die Hergabe von marktfähigen Vermögenstiteln hätten akkumulieren können, die dann bei Überweisungen zwischen den nationalen Notenbanken verschoben werden. Das ist der große Unterschied zu Überweisungen zwischen verschiedenen Banken innerhalb des Hoheitsgebietes einer nationalen Notenbank. Wenn ein Land austritt, lassen sich seine Target-Schulden nicht mehr eintreiben. Wenn sein Finanzsystem kollabiert und der Staat in Konkurs geht, kann seine Notenbank die Zinsverpflichtungen aus dem Zinspooling-Mechanismus, die selbst wiederum durch die Höhe der Target-Salden bestimmt werden, nicht mehr erfüllen. Sie ist dann im Innenverhältnis des Eurosystems insolvent. So oder so können die verbleibenden Euroländer ihre Forderungen verlieren. Es gibt aber auch noch eine andere, unmittelbare Gefahr.

Nämlich?

Bei der Entscheidung über fiskalische Rettungsschirme sind die noch gesunden Euroländer nicht mehr frei, denn sie sitzen bereits wegen Target in der Haftungsfalle. Fiskalische Rettungsschirme implizieren, dass Rettungsgelder in die Krisenländer überwiesen werden, und das lässt die Salden eins zu eins schrumpfen. Die Rettungsgelder ersetzen die Target-Überziehungskredite  durch Geschenke oder Kredite anderer Staaten. Damit dreht das Target-System das Demokratieprinzip um, denn die freie Verfügbarkeit der Überziehungskredite im Eurosystem zwingt die  Parlamente, fiskalische Ersatzkredite zur Verfügung zu stellen, wenn ihnen die Target-Überziehungskredite als zu hoch erscheinen.

Die Bundesbank ist im elektronischen Verrechnungssystem der Euro-Notenbanken der größte Gläubiger. Welche Forderungshöhe ist für Deutschland nach Ihrer Ansicht ökonomisch akzeptabel?

Temporäre Salden von bis zu 100 Milliarden Euro könnte man akzeptieren. Alles, was darüber hinaus anfällt, sollten die Defizit-Notenbanken durch die Hergabe von marktfähigen und nicht durch Kaufaktionen des Eurosystems gestützten Vermögenswerten tilgen. Am besten wäre es, die Goldtilgung einzuführen. Zum einen verfügen einige der Defizitnotenbanken bereits über nicht unerhebliche Goldbestände, zum anderen können sie sich das benötigte Gold jederzeit durch den Verkauf ihrer Aktiva auf dem Weltmarkt beschaffen. Mir ist aber klar, dass man solch eine Regel heute nicht einfach so aus dem Stand einführen kann, ohne eine Vertrauenskrise bei den Anlegern zu erzeugen.

Was wäre die Alternative?

Ich würde den Reset-Knopf drücken, den bedrängten Notenbanken einen Teil ihrer Target-Schulden erlassen und dann mit einem grundlegend reformierten Eurosystem neu starten, bei dessen Konstruktion man aus den Fehlern des alten Systems lernt. Eigentlich hätte man die Reform schon als Gegenleistung für die Wiederaufbaufonds einfordern können.

Das Interview führte Bert Losse.

Nachzulesen auf www.wiwo.de.