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"Rettungwahn", "Seifenblasen", "Geiselhaft": Messerscharf seziert Hans-Werner Sinn in seinem neuen Buch die Abgründe der Euro-Krise und die Geburtsfehler der Währungsunion. Doch seine Lösung für den Schlamassel bleibt vage.
"Ich sag nicht wer er ist, wenn sie das nicht wissen, haben sie was verpasst", sagt der Pressesprecher gleich zu Beginn. Schon vor seiner Rede lässt sich ein Zuhörer das Buch signieren, das Hans-Werner Sinn vorstellt. Der 67-jährige ist Chef des Ifo-Instituts und der deutsche Vordenker der Euro-Kritiker. Die Krise ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Ohne einen Notizzettel referiert Sinn zehn Minuten über Zahlungsbilanzen, Rettungspakete und Schuldenstände.
Seine Botschaft ist bekannt. Er hat sie jahrelang in Debatten geschliffen. Er hat den Sound der Euro-Kritik in unzähligen Talkshows feingetunt. Mit seinem neuen Buch "Der Euro: Von der Friedensidee zum Zankapfel" will er ihn in die Welt hinaustragen. Eine chinesische und auch eine koreanische Ausgabe sind geplant. Im März tritt Sinn als Chef des Münchner Ifo-Instituts ab. Das Buch soll sein Vermächtnis werden, eine Art Standard-Werk der Euro-Krise. Er wolle die Dinge für die Geschichte aufarbeiten, sagt Sinn.
535 Seiten stark ist sein Manifest geworden. Er liefert damit ein Plädoyer für die Sparpolitik, vor allem aber eine scharfsinnige und detailgenaue Analyse der Euro-Krise, die ihresgleichen sucht. Kaum ein anderer beschreibt die Schwächen des Euro und die Entstehung der Schuldenkrise so anschaulich wie Sinn. Kaum jemand unterfüttert die schwindelerregenden Milliardenlasten der Rettungspolitik so gewissenhaft mit Daten. Aber einen echten Ausweg hat er nicht anzubieten.
"Politische Scheinrealität zerbricht"
"Die Europäische Union ist eine extrem erfolgreiche und segnungsreiche Erfindung", sagt Sinn. "Sie hat den Völkern Europas Freiheit und Prosperität beschert", schreibt er. Das gelte aber leider nicht für den Euro. Die Währungsunion habe die südeuropäischen Länder in ein Korsett gezwängt, das ihnen die Luft abschnürt und sie zu Massenarbeitslosigkeit verdammt.
Sie sind gefangen im Euro: eine wettbewerbsfähige Wirtschaft haben sie nicht. Abwerten, um die Wirtschaft anzukurbeln, können sie nicht mehr. Dafür können sie sich dank der gemeinsamen Währung viel billiger verschulden als vorher und leben über ihre Verhältnisse. Das ist das Rezept für das Euro-Desaster.
Aus dieser Euro-Falle müsse Griechenland raus, meint Sinn. In Bulgarien, Rumänien oder der Türkei seien die Löhne viel geringer, das Land müsse daher womöglich um bis zu 30 Prozent abwerten: "Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Griechenland das im Euro schafft." Also muss es austreten.
Darin liegt Sinns Schwäche: Er sieht die Krise als volkswirtschaftliches Paradoxon, nicht als realpolitisches Problem. Menschliche Folgen blendet er aus: "Jedes Land kann wettbewerbsfähig sein, wenn es sich mit einem Lebensstandard begnügt, der seiner Produktivität entspricht." Soll heißen: Wenn die Griechen nur arm genug werden, können sie gerne im Euro bleiben. Politik könne auf Dauer nicht jenseits der wirtschaftlichen Realität existieren, hält Sinn dagegen: "Diese politische Scheinrealität zerbricht an den Felsen der Wirklichkeit".
Wabbel-Euro statt Haftungsunion
Noch verheerender als für Griechenland sei der Euro zudem für Europa, meint Sinn: er stachelt die Völker gegeneinander auf. Nehmerländer wie Griechenland fühlten sich unterdrückt, Geberländer wie Deutschland als Zahlmeister missbraucht. "Ich fürchte, dass wir die Fehler der amerikanischen Gründerzeit wiederholen: Dass wir in eine Verschuldungslawine hineinkommen und wir uns bald alle die Köpfe einschlagen könnten", warnt Sinn.
In den USA hafteten die Bundesstaaten anfänglich gemeinsam für ihre Schulden. Das sei jedoch nicht Zement, sondern Sprengstoff für die Union gewesen, zitiert Sinn den britischen Historiker Harold James. Eine Reihe von Staaten ging pleite und musste von den anderen gerettet werden. Das habe Missgunst gesät und zum Bürgerkrieg beigetragen, der kurz danach begann.
Die Euro-Rettungspolitik hält Sinn daher für einen Irrweg. Stattdessen sollte Europa den Reset-Knopf drücken, Griechenland, Portugal & Co. die Schulden streichen und sie vorübergehend aus dem Euro austreten lassen. Auf Dauer könne der Euro zwar nur in einem europäischen Einheitsstaat nach dem Vorbild der USA überleben - einer Union ohne gemeinsame Haftung. Doch diese "Vereinigten Staaten von Europa" seien längst nicht in Sicht.
Als Zwischenlösung schwebt Sinn daher eine "atmende Währungsunion" vor: eine Art Wabbel-Euro, aus dem Länder aus- und nach einer Erholungsphase wieder eintreten können. Nur: Was für eine Gemeinschaftswährung wäre das noch? Die "atmende" Währungsunion könnte schnell zerfallen, falls sich Finanzspekulanten auf die nächsten Schuldenstaaten einschießen, nachdem der erste Pleitekandidat ausgetreten ist.
"Natürlich ist die Gefahr für einen Domino-Effekt groß, sobald ein Land den Euro verlässt", räumt Sinn ein. Doch die Ansteckungsgefahr gäbe es auch, wenn ein Land im Euro Pleite geht: Sobald ein Staat seine Schulden nicht mehr bezahlt, können auch andere in Versuchung geraten, ihre Verbindlichkeiten nicht mehr zu bedienen. Die Gretchenfrage lautet, was die größere Gefahr für den Euro ist. "Ich halte den Domino-Effekt bei einem Schuldenschnitt innerhalb der Währungsunion für gefährlicher", sagt Sinn. In spätestens zweieinhalb Jahren könnte seine These in der Realität getestet werden. Dann läuft das dritte Rettungspaket für Griechenland aus.