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Hans-Werner Sinn verlangt eine europäische Armee, um die EU-Außengrenzen zu sichern. Außerdem sieht er Europa in der Flüchtlingsfrage Berlin gegenüber in der Pflicht. Aus einem bestimmten Grund. Von Martin Greive.
Top-Ökonom Hans-Werner Sinn drängt Europa in der Flüchtlingskrise zu tiefgreifenden Reformen. "Eine Außensicherung der Grenzen ist nicht mehr möglich. Ein chaotisches Überrennen der Grenzen kann sich aber niemand leisten", warnte Deutschlands bekanntester Ökonom anlässlich einer Buchvorstellung.
Die Flüchtlingskrise zeige, dass Europa falsch aufgestellt sei. Die europäische Agentur Frontex sei mit der Grenzsicherung völlig überfordert. Sinn leitet daraus radikale Folgen ab: "Die Zeit der nationalen Armeen ist vorbei. Wir brauchen eine europäische Sicherheitspartnerschaft, wir brauchen eine europäische Armee", sagte der Präsident des Münchner Ifo-Instituts.
Der Ökonom ging mit der Flüchtlingspolitik von Deutschlands Nachbarn hart ins Gericht. "Es ist enttäuschend, wie Deutschland vom Rest der EU allein gelassen wird", beklagte Sinn. Europa müsse sich dringend auf eine gerechte Aufteilung der Hilfesuchenden einigen. "Großbritannien hat zugesagt, bis 2020 rund 20.000 Flüchtlinge aufzunehmen. Schön. So viele kommen bei uns an zwei Tagen."
Ist Europa undankbar?
Für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung offiziell noch mit 800.000 Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen. Allerdings gehen interne Schätzungen bereits von deutlich über eine Million hinaus. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte zwar auf ein EU-Quotenmodell gedrängt. "Doch Merkel hatte damit keine Chance", sagte Sinn.
Dies sei insbesondere enttäuschend, weil Deutschland in der europäischen Schuldenkrise einen großen Teil die Rettungsmaßnahmen geschultert habe. "Wenn andere Solidarität verlangen, muss das auch umgekehrt gelten", forderte Sinn. Es könne nicht sein, dass die anderen EU-Staaten Deutschland in der Flüchtlingskrise jetzt hängen ließen, nachdem Deutschland bei der Euro-Rettung so viel geleistet habe.
Sinn warnte die Politik, vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise die europäische Schuldenkrise völlig aus dem Blickfeld zu nehmen. Zwar sei die Versorgung der Flüchtlinge derzeit sicher das drängendere Problem. Aber die Euro-Krise sei nicht vorbei. "Nordeuropa befindet sich in einer Haftungsfalle. Und Südeuropa ist überhaupt nicht wettbewerbsfähig", sagte Sinn, dessen Buch "Der Euro" in diesen Tagen auch auf Deutsch erscheint.
Vorstoß aus Frankreich "inakzeptabel"
In dem über 500 Seiten starken Werk zeichnet Sinn ein düsteres Bild von der europäischen Gemeinschaftswährung. "Der Euro ist als Friedensprojekt gestartet, aber zum Zankapfel geworden", sagte Sinn. Die EU sei ohne Frage eine segensreiche Entwicklung für die europäische Integration, zu der es keine Alternative gebe. "Für den Euro gilt das aber nicht."
Besonders eindringlich warnte Sinn vor den jüngsten Vorschlägen aus Frankreich. So drängt Frankreichs Wirtschaftsminister Emmanuel Macron auf eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, ein europäisches Budget und eine gemeinsame europäische Schuldenaufnahme. "Es ist schon erstaunlich, was die Franzosen alles vorhaben. Das Land sucht sein Heil in der Transferunion. Das kann aber nicht die Lösung für Frankreich sein", sagte Sinn.
Er hält eine Haftungsunion nicht nur im Grundsatz für verkehrt. Er glaubt auch, Europa könne sie sich überhaupt nicht leisten. "In einer Fiskalunion ohne Frankreich müssten schon 60 Prozent der Bürger die übrigen 40 Prozent finanzieren. Mit Frankreich wäre das Verhältnis sogar noch umgekehrt: 40 Prozent müssten 60 Prozent alimentieren", sagte Sinn.
Krisenländer sollten aus Währungsunion aussteigen
Statt immer mehr in eine Haftungsunion abzudriften, sollte die Euro-Zone zu einer "atmenden Währungsunion" werden, schlägt Sinn vor. Pleiteländer wie Griechenland sollten auf einer großen Konferenz einen Teil ihrer Schulden erlassen bekommen und danach zeitweise aus der Währungsunion ausscheiden, um über eine Währungsabwertung wieder wettbewerbsfähig zu werden. Ein Schuldenerlass allein reiche nicht aus. Die 70 Schuldenkrisen der vergangenen Jahrzehnte hätten gezeigt: erst eine Währungsabwertung führe zur Genesung der Wirtschaft, schreibt Sinn.
Allerdings birgt eine atmende Währungsunion große Risiken. So könnten sich die Finanzmärkte etwa nach einem Ausscheiden Griechenlands ein Euro-Land nach dem anderen vornehmen und auch Portugal, Spanien oder Italien aus der Währungsunion drängen. Diese Gefahr eines Domino-Effektes sieht Sinn zwar auch. Doch gibt es seiner Meinung nach auch einen anderen Domino-Effekt: Wenn schwache Euro-Staaten wüssten, im Zweifelsfall immer von den Starken gerettet zu werden, würden sie nicht ernsthaft sparen.
Genau diesen Fehlanreiz hätten hochverschuldete Euro-Länder nicht mehr, wenn ein Land aus dem Euro ausscheiden könnte und sie damit rechnen müssten, möglicherweise als Nächstes ins Visier der Finanzmärkte zu geraten, argumentierte Sinn. Dann müssten sie ernsthaft sparen. Natürlich könnten sie trotzdem von den Finanzmärkten abgestraft werden. "Es gibt also einen Zielkonflikt zwischen einer Verschuldungslawine und dem Auslösen von Finanzkrisen", sagte der Ökonom.
Sinn schätzt die Risiken einer Verschuldungslawine größer ein als drohende Domino-Effekte. Er wolle eine Situation wie in den USA im 19. Jahrhundert verhindern, sagte der Ökonom. Damals wurden die Schulden vieler US-Bundesstaaten auf Bundesebene verstaatlicht. Am Ende waren trotzdem neun der 29 Staaten pleite, wenige Jahre später brach der Sezessionskrieg aus. Das sei ein warnendes Beispiel, sagte Sinn. "Ich möchte eine Situation in Europa vermeiden, in der wir uns am Ende alle die Köpfe einschlagen."