Ifo-Präsident Hans-Werner Sinn fordert einen Einstieg des Staates bei den Banken und ein weiteres Konjunkturpaket
Er ist einer der führenden Ökonomen Deutschlands. Als Volkswirtschaftsprofessor ist Hans-Werner Sinn in der Zunft auch international angesehen. Als Präsident des Ifo-Instituts in München ist er ein gefragter Ratgeber der Politik. Seine Bücher sind regelmäßig Bestseller. Sinn polarisiert: Er hat viele Fans, seinen Kritikern dagegen gilt er als neoliberal und kaltherzig. In der aktuellen Wirtschaftskrise überrascht er mit der Forderung nach einem Einstieg des Staates bei allen großen Banken und der Warnung vor einem rigiden Sparkurs des Staates. Die Krise sei noch nicht überwunden, die Gefahr eines Rückschlags groß, sagt Sinn im SZ-Interview: ,,Regierungen dürfen jetzt nicht anfangen, die Ausgaben herunterzufahren, weil sie denken: Wir können uns das nicht mehr leisten. Das wäre gefährlich.‘‘
Herr Professor Sinn, die Wirtschaft zieht wieder an. Haben wir ein Jahr nach der Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers das Schlimmste hinter uns?
Vieles deutet tatsächlich auf eine weltweite Erholung hin. Die Rezession in den USA, der weltgrößten Volkswirtschaft, ist vorbei. In Asien wächst die Wirtschaft wieder, in China sogar stürmisch. Und deutsche Firmen bekommen mehr Aufträge.
Waren Manager, Politiker, Wirtschaftswissenschaftler und Medien zu pessimistisch? Sie selbst haben im Frühjahr noch eindringlich gewarnt: Die Krise kommt erst noch.
Damit meinte ich den Arbeitsmarkt. Da kommen die Probleme noch. Die Industrieproduktion lag im Juli mehr als 20 Prozent niedriger als vor der Krise. Die Auftragseingänge bei der Industrie sind um mehr als 30 Prozent niedriger. Damit werden wir noch lange kämpfen. Auch wenn die Wirtschaft wieder wächst, werden die Arbeitslosenzahlen im Winter und im kommenden Jahr deutlich steigen. Um wie viel, das versuchen die Institute gerade zu prognostizieren, was schwer genug sein wird.
Kann die Krise zurückkommen? In den Bankbilanzen schlummern weiter riesige Summen fauler Wertpapiere.
Ja, die Banken sind noch nicht über den Berg. Bis zum Frühjahr hatten sie weltweit notleidende Wertpapiere von etwa 1,1 Billionen Dollar abgeschrieben. Jetzt könnten es 1,5 Billionen sein. Der IWF geht aber davon aus, dass die Banken durch die Krise insgesamt mehr als vier Billionen Dollar verlieren werden. Das heißt: Die Banken haben den Löwenanteil der Abschreibungen noch vor sich.
Der Patient fühlt sich besser, aber der Erreger lebt weiter?
Ich warne eindringlich vor der Haltung, die Krise sei überwunden. Das wäre zu früh. Ein Rückschlag ist möglich ...
... zum Beispiel deshalb, weil die Banken nur noch wenig Geld verleihen und eine Kreditklemme droht?
Die deutschen Kreditinstitute haben in der Krise große Teile ihres Vermögens verloren. Ihr Eigenkapital lag bei 300 Milliarden Euro. Davon waren bis zum Frühjahr schon mehr als 60 Milliarden weg. Weitere, hohe Abschreibungen stehen noch aus. Die Folge: Die Banken schrumpfen und vergeben nur noch wenige, teure Kredite. Das darf die Politik nicht mitmachen.
Was kann sie denn dagegen tun?
In den USA hat sich der Staat an vielen großen Banken beteiligt - auch gegen deren Willen. Die Regierung hat den Banken das staatliche Geld förmlich aufgezwungen. Wenn die USA jetzt schneller auf die Beine kommen als der Rest der Welt, dann auch deswegen. Anders als die deutschen Banken konnten sich die amerikanischen nicht auf Kosten der Privatunternehmen durchwurschteln.
Bundesfinanzminister Peer Steinbrück sollte also die Chefs aller großen Banken antreten lassen und ihnen den Staatseinstieg aufzwingen, so wie es sein US-Kollege Henry Paulson getan hat?
Ja. Eine Alternative im Kampf gegen die Kreditklemme sehe ich nicht.
Auch jene Banken, die sich bislang geschämt haben, Staatshilfe zu nehmen, wie die Deutsche Bank, müssten dann akzeptieren, dass sie teilweise verstaatlicht werden?
Die Bücher müssen in sogenannten Stress-Tests offengelegt werden. Dann wird man sehen, wem das Geld fehlt. Wer zu schwachbrüstig ist, muss den Staat temporär als Miteigentümer akzeptieren. Das ist übrigens keine Verstaatlichung. Die Banken kämen in eine Art Krankenhaus und müssten so lange an den Tropf, bis es ihnen besser geht und man sie wieder entlassen kann.
Die deutschen Banken würden sich mit Händen und Füßen gegen einen solchen Zwangseinstieg wehren.
Wundert Sie das? Die Millionen-Gehälter der Chefs würden gedeckelt, der Staat redet beim Geschäft mit. Klar, dass sich Banker wehren. Und gerade deshalb muss man sie zwingen. Das Bankwesen flottzumachen, hat jetzt oberste Priorität, sonst wird die Realwirtschaft massiv geschädigt. Außerdem muss die Staatengemeinschaft neue Regeln für eine langfristig bessere Bankenregulierung finden. Handeln die Regierungen nicht, vergeuden sie die Krise.
Und wenn sie die Krise vergeuden?
Dann steht die Welt bald wieder am Abgrund. Schauen wir zurück: Die Krisen häufen sich. Die Weltschuldenkrise, die Krise der US-Sparkassen, die Asienkrise, dann die Internet-Blase. Da ist das Gleiche doch schon mal passiert: In den Banken wurden viel zu riskante Geschäftsmodelle gewählt. Die Erkenntnis ist schon älter: Wir müssen stärker regulieren. Was ist passiert? Nichts. Es ist kaum zu fassen, wie einige jetzt schon wieder triumphieren.
In New York und London werden schon wieder Millionen-Boni für den schnellen Gewinn gezahlt. Warum bremst niemand die Banken und Fonds?
Weil die USA und Großbritannien um ihre Finanzindustrie fürchten. Die Wall Street ist für Amerika eine wichtige Lebensader, und die City of London ist für Großbritannien sogar noch wichtiger. Die Briten haben ja kaum noch Industrie. Die wollen nicht ihre wichtigste Branche gefährden.
Nächste Woche treffen sich die wichtigsten Staats- und Regierungschefs der G-20-Staaten in Pittsburgh, um über Konsequenzen aus der Krise zu beraten. Glauben Sie, dass es der Politik gelingen wird, Exzesse wie früher künftig wirklich zu verhindern?
Da bin ich mir nicht so sicher. Noch ist das Eisen heiß, das es zu schmieden gilt. Was wir brauchen, sind vor allem neue Bilanzregeln, die die Banken zwingen, mehr Eigenkapital zu vorzuhalten. Das gilt auch für Deutschland. Bei uns liegt die Eigenkapitalquote aller Banken bei gerade mal vier Prozent, bezogen auf die aggregierte Bilanzsumme. Das ist viel zu wenig. Gäbe es bei uns eine Krise wie die Immobilienkrise in den USA, würden auch die deutschen Banken sterben wie die Fliegen.
Mehr Eigenkapital nützt aber wenig, wenn die Banken einen großen Teil ihres Geschäfts weiterhin außerhalb der Bilanz betreiben, in sogenannten Zweckgesellschaften, die man nicht kennt und für die die Banken praktisch kein Eigenkapital bereithalten müssen.
Deshalb sollte man die Banken zwingen, ihr gesamtes Geschäft in den Bilanzen auszuweisen. Den Schattenbanken muss man das Wasser abgraben. Es waren ausländische Zweckgesellschaften, die Banken wie die Hypo Real Estate, die IKB oder die SachsenLB in den Abgrund gezogen haben. Solche Tricks überhaupt zuzulassen, war ein Regulierungsfehler. Spanien oder Italien waren strikter. Sie haben die Banken gezwungen, ihre ausländischen Geschäfte offenzulegen und zu Hause mit Eigenkapital zu unterlegen.
Haben Sie denn den Eindruck, dass die Banken wirklich zur Umkehr, zu einer Selbstreinigung bereit sind? Oder ist die Gier mancher Banker weiterhin größer als deren Vernunft?
Ich sehe das Problem weniger in der Gier als in der Sorglosigkeit. Sie hat dazu geführt, dass man verschachtelte amerikanische Wertpapiere gekauft hat, die vielzitierten CDO-Papiere, die bis zu 40 Mal neu verpackt worden waren. Was da in Amerika erfunden wurde, ist Irrsinn. Manche Finanzprodukte waren das Papier nicht wert, auf dem sie standen.
Soll man diese Verbriefungen verbieten?
Ab der zweiten oder dritten Verpackung, ja. Diese Geschäfte haben keinen Nutzen und schaden nur.
Sollte man auch eine Zulassungsbehörde für Finanzprodukte schaffen, die entscheidet, was gehandelt werden darf und was nicht?
Schon, ja. Wichtiger ist es freilich, mehr Eigenkapital zu verlangen, damit die Eigentümer die Verluste auch wirklich tragen müssen. Das wird insgesamt mehr Sorgfalt und Vorsicht erzeugen.
Außerdem begrenzen wir die Boni der Banker und bringen sie dadurch zur Vernunft ...
Nein, das ist der falsche Hebel. Die Boni-Diskussion verdeckt das wahre Problem. Das liegt wegen der massiven Gefahren für Dritte nicht bei der Manager-Entlohnung, sondern bei der Entlohnung der Aktionäre, also dem Prinzip des Shareholder-Value. Das Dumme ist nur, dass die meisten das nicht erkennen.
Wieso nicht?
Sie verwechseln die Strippenzieher mit den Marionetten, um es mal pointiert auszudrücken. Das Publikum schaut auf die kleine Bühne, sieht den Kasperl und den Räuber und versteht nicht, dass beide von oben gelenkt werden. Es sind die Aktionäre, die, angestachelt von den Analysten, die Fäden ziehen. Die Aktionäre gestalten die Anreiz- oder Bonussysteme für die Manager so, dass diese die riskanten Geschäftsmodelle verfolgen, denn nur so lassen sich Renditen von 25 Prozent auf das Eigenkapital erzielen.
Und wenn ein Vorstandschef nicht mitmacht?
Dann wird er ausgetauscht.
Wenn man dieser Idee folgt, müsste man also dem Marionettenspieler neue Regeln auferlegen - und dann werden auch die Marionetten anders tanzen?
So ist es. Vor allem die Aktionäre der Banken müssten im Katastrophenfall stärker zur Rechenschaft gezogen werden. Bislang profitieren sie von den Gewinnen voll, haften bei Verlusten aber nur zum kleinen Teil, nämlich maximal mit dem wenigen Eigenkapital, das in der Bank steckt. Für den Rest springt der Staat ein, oder die Gläubiger schauen in die Röhre. Auch aus diesem Grund müssen wir das Eigenkapital der Banken erhöhen. Bricht ein Institut zusammen, gibt es für Eigentümer mehr zu verlieren. Die Aktionäre werden daher auf eine nachhaltigere Geschäftspolitik drängen und dafür sorgen, dass die Manager andere Entlohnungssysteme kriegen, damit sie vorsichtiger werden.
Tun die Regierungen weltweit genug, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln?
Sie haben viel getan. Aber man muss jetzt auch ein gewisses Stehvermögen haben. So eine Krise ist nicht nach einem Jahr vorbei. Auch wenn weltweit die Staatsverschuldung vor allem in den USA und Japan dramatisch steigt: Regierungen dürfen jetzt nicht anfangen, die Ausgaben herunterzufahren, weil sie denken: Wir können uns das nicht mehr leisten. Das wäre gefährlich.
Finanzminister Steinbrück drängt auf den Ausstieg und will Hilfspakete zurückfahren. Zu früh?
Ja, wir dürfen die Ausgaben im nächsten Jahr auf keinen Fall zurückfahren und müssen uns weiter verschulden.
Heißt das: Wir brauchen ein drittes Konjunkturpaket?
Ich wäre froh, wenn wir das Niveau der Ausgaben hielten, sobald die Steuern, wie zu erwarten, wegbrechen. Die Kurzarbeit zum Beispiel hat wunderbar funktioniert und dafür gesorgt, dass die Zahl der Arbeitlosen längst nicht so schnell steigt.
Bundesarbeitsminister Scholz glaubt, dass die meisten Kurzarbeiter ihren Job behalten.
Das hoffe ich auch.
Kurzarbeit allein wird die Wirtschaft aber nicht in Gang bringen. Was ist noch nötig?
Sinnvoll wäre eine spürbare Steuerentlastung. Zudem sollte man es der produzierenden Wirtschaft erleichtern, Investitionen schneller abzuschreiben. Für vertretbar halte ich ein Programm in der Größenordnung von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts, etwa 25 Milliarden Euro.
Das ist ja ein ganz neuer Sinn, der hier spricht. Sie waren bisher nicht als Anhänger von Konjunkturprogrammen und viel Staat bekannt.
Vielleicht war ich dafür nicht öffentlich bekannt. Aber fragen Sie meine Studenten. Seit einem Vierteljahrhundert lehre ich, wie Staaten nach der keynesianischen Theorie bei heftigen Krisen eingreifen sollten. Ich war nur in der Vergangenheit dagegen, die Rezepte in Deutschland anzuwenden, weil eine solche keynesianische Krise nicht vorlag. Stattdessen hatten wir eine strukturelle Krise. Die Agenda 2010 hat darauf zum Teil die richtige Antwort geliefert. Als Arzt haben Sie ja auch verschiedene Medikamente und wählen das aus, was zur Krankheit passt.
Noch mal: Sie gelten als neoliberaler Ökonom. Und doch sind Sie dafür, Banken zeitweise zu verstaatlichen, die Finanzmärkte schärfer zu regulieren, die Konjunktur anzukurbeln ...
... und den Arbeitsmarkt zu deregulieren ...
... wie passt das zusammen?
Die Welt ist doch nicht schwarz und weiß! Es geht nicht um Kapitalismus pur gegen Kommunismus. Der Staat darf Preise und Löhne nicht beschränken, doch muss er die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens setzen. Schon der Neoliberalismus, der 1938 auf einer Konferenz in Paris begründet wurde, war ja die Antwort auf das Laisser-faire der Jahrzehnte zuvor. Der Neoliberalismus, vor allem in seiner deutschen Variante des Ordoliberalismus, dem ja auch Ludwig Erhard anhing, setzte von Anbeginn darauf, dass der Markt klare Regeln braucht. Er war aber strikt gegen die Regulierung von Preisen und Löhnen.
Was müssen wir also heute tun?
Auf Mindestlöhne verzichten, mit Keynes die akute Krise bekämpfen, und nach der Lehre des Neoliberalismus die Banken regulieren. Wir können und dürfen allerdings die vielen Millionen Unternehmen in Deutschland nicht staatlich steuern. Es wird ja auch kein gutes Fußballspiel, wenn der Schiedsrichter die Spielzüge vorgibt. Das muss man schon den Spielern überlassen.
Müssen sich die Ökonomen in ihrer Mehrheit vorwerfen lassen, dass sie in den vergangenen Jahrzehnten für eine massive Deregulierung waren, gerade auch an den Finanzmärkten?
Das ist, was mich, aber auch andere Ökonomen betrifft, eine falsche Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit.
Trotzdem werden viele Leute sagen: Der Professor Sinn hängt sein Fähnchen jetzt in den Wind und redet ganz anders als früher.
Das mag sein. Ich empfehle Ihnen aber zum Beispiel mein Buch über den Wettbewerb von Regulierungssystemen aus dem Jahr 2003. Das ganze Buch ist eine Warnung vor den Folgen einer übermäßigen Deregulierung. In den USA allerdings, das ist wahr, haben vor allem die Vertreter der Chicago-Schule für eine Rückkehr zum klassischen Liberalismus geworben, ebenso wie auch die Lobby der Wall Street.
Wird die nächste Bundesregierungung die richtigen Konsequenzen aus der Misere ziehen?
Ich weiß ja gar nicht, wer die nächste Regierung bilden wird.
Wen wünschen Sie sich denn?
Sinn: Nicht einmal das weiß ich so richtig.
Interview: Markus Balser, Marc Beise, Ulrich Schäfer