Roulette gespielt

Presseecho, Wisu, 01.08.2009, Nr. 8-9/09, S. 1042

Es gab nur wenige Ökonomen, die die Krise kommen sahen. Dafür gibt es nun einige, die sie nachträglich erklären und Lösungsvorschläge machen. Wie Hans-Werner Sinn, dessen neuestes Buch sich mit der Mega-Krise befasst.

 

Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die auf ein Knäuel von Ursachen und Verfehlungen zurückgeht, hat viele — nicht nur die Bürger, auch die Politiker — ratlos gemacht. Da sind Leute wie Hans-Werner Sinn gefragt, die in der Lage sind, komplexe Zusammenhänge aufzudecken und plausible Erklärungen zu finden. Etwas, was der in München lehrende Ökonom und Chef des Ifo-Instituts schon immer gut konnte. Nicht umsonst wird er regelmäßig um Kommentare gebeten und zu Talkshows eingeladen, in denen es um wirtschaftliche Themen geht.

Dass er — im Gegensatz zu manch anderem Ökonom — verständlich und auch noch spannend schreiben kann, hat er bereits mit mehreren Sachbüchern wie „Ist Deutschland noch zu retten?" und „Die Basarökonomie" bewiesen. Originelle Ideen und eine gesunde Streitlust gehören ebenfalls zu seinem Repertoire. Was Gespräche und Begegnungen mit ihm nicht nur erfrischend und unterhaltsam, sondern auch meist lehrreich macht.

Kein Wunder, dass eine der größten Finanzkrise, die die Welt je gesehen hat, jemanden wie Sinn erneut zur Feder greifen lässt — um ihre Geschichte aufzuzeichnen, Erklärungen zu liefern und nicht zuletzt, um Lösungen anzubieten. Und das ist ihm mit „Kasino-Kapitalismus", seinem neuesten Buch, erstaunlich gut gelungen. Erstaunlich deshalb, weil diese Mega-Krise aus so vielen Zutaten besteht, dass anderen Autoren dabei öfters mal der Überblick verloren geht.

Dass für den Ordoliberalen Sinn — er bezeichnet sich auch gern als Neoliberalen im Sinne von Walter Eucken und Ludwig Erhard, im Gegensatz zu den Neoliberalen der Chicagoer Schule — Kapitalismus nicht per se gut ist, macht der Titel „Kasino-Kapitalismus" deutlich. Damit Wettbewerb funktioniert, „bedarf es einer Wettbewerbsordnung, also eines Systems von Spielregeln", so Sinn. „Dafür wiederum ist ein starker Staat vonnöten, der die Spielregeln definiert und ihre Einhaltung überwacht. Marktwirtschaft ist schließlich keine Anarchie, wo jeder tun und lassen kann, was er will."

Und weiter: „Das Setzen von Spielregeln ist aber nicht dasselbe wie die Detailsteuerung des Spiels. Deshalb ist es kein Widerspruch, wenn man die Selbstregulierung der Marktwirtschaft verneint, doch die Selbststeuerung innerhalb eines Ordnungsrahmens bejaht." Und schließlich: „Der Ordoliberalismus ... glaubt nicht, dass dieser Ordnungsrahmen von der Wirtschaft geschaffen werden kann. Zu den Aufgaben des Staates gehört es deshalb ... die Märkte zu regulieren, wirtschaftliche Macht zu begrenzen und durch Sozialpolitik für Gerechtigkeit und Sicherheit zu sorgen." Auf die derzeitige Krise bezogen meint der Ökonom: „Sie ist ein Sieg des Ordoliberalismus über den Chicago-Liberalismus, denn sie zeigt, dass es keine Selbstregulierung der Wirtschaft gibt."

Doch nun, so Sinn, müsse erst einmal „Keynes die Banken und die Wirtschaft retten", womit sich der Ifo-Chef klar für staatliche Konjunkturprogramme ausspricht. Für jemanden wie ihn, der meist die Angebotsseite stärken will, eine beachtliche Feststellung. Sinn: „Ich war in den letzten Jahren gegen die keynesianische Rezeptur, weil wir keine keynesianische Krankheit hatten. Heute liegt wegen der gewaltigen Nachfrageschwäche in der Tat eine Konstellation vor, bei der Konjunkturprogramme helfen. Von einem Arzt erwartet man ja auch nicht, dass er bei allen Krankheiten dieselbe Rezeptur verschreibt."

Wie für viele andere war auch für Sinn die Pleite von Lehman Brothers Mitte September 2008 der Funke, der die Finanzkrise erst so richtig entfachte. „Nun, da 60 Prozent der großen US-Investmentbanken eliminiert sind, haben die überlebenden Banken den Markt für sich." Dass der damalige US-Finanzminister Hank Paulson, einst auch Chef der Investmentbank Goldman Sachs, ein Exempel an deren Erzrivalen Lehman Brothers statuieren wollte, stört nicht nur Sinn. Zumal allseits bekannt ist, dass sich Paulson und Lehman-Chef Fuld nie mochten.

Da die Finanzmärkte nachlässig reguliert waren, wurde dort kräftig Roulette gespielt. Die Bankaktionäre konnten sich zu Lasten der Gläubiger und des Staates bereichern. Geht es nach Sinn, bedarf es einer fundamentalen Reform des Bankensystems, um größere Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten. Die Einrichtung von Bad Banks hält er für eine Bad Idea, notfalls sollte sich der Staat vorübergehend an den Banken beteiligen. Vor allem müssten die Eigenkapitalquoten der Banken wesentlich erhöht werden. Dadurch würden nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste der Banken privatisiert.

Von der Idee, die Banken nach dem Motto „if banks are too big to fail, than they are too big" zurechtzustutzen, hält er hingegen nichts. Sinn: „Im Bankengeschäft gibt es riesige Skalenerträge. Auf lauter kleine Banken zu setzen, würde viel Ineffizienz erzeugen. Nein, man muss die großen Banken besser regulieren.“

Die Krise wird tiefe Spuren hinterlassen — nicht nur in der Weltwirtschaft, auch in der Wirtschaftswissenschaft. Wer die komplexen Zusammenhänge verstehen möchte, für den ist „Kasino-Kapitalismus" eine wahre Fundgrube. Auch dann, wenn man Sinns Argumentation nicht immer folgt. Auf den Seiten 1043 bis 1051 ist das letzte Kapitel („Wege zu einem besseren Banken- system") abgedruckt.