WIEN. Der Chef des deutschen Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, Hans-Werner Sinn, ist kein Mann nobler Zurückhaltung: Deutschland ist aus seiner Sicht ein "Sanierungsfall", die deutsche Wiedervereinigung eine "Konkursabwicklung mit Sozialplan", der Sozialstaat der mächtigste Konkurrent der deutschen Wirtschaft.
Wer schon immer wissen wollte, was da eigentlich so alles hinter dem Niedergang der deutschen Wirtschaft steckt, der wird an Sinns jüngstem Buch - "Ist Deutschland noch zu retten?" - nicht vorbeikommen. Dieses Werk ist vor allem eines: Eine knallharte Abrechnung mit der deutschen Wohlfahrtsillusion und eine klare Darstellung der entscheidenden Schwachstellen des Wirtschaftswunders von vorgestern.
Deutsche Wohlstands-Illusion
Die Stärke des Werkes liegt nicht zuletzt darin, dass es auf theoretische Schnörkel verzichtet, bestechend einfach formuliert ist und damit auch allen Nicht-Ökonomen das derzeit größte Problem Europas verständlich macht. Und dass Deutschland Europas Achillesferse ist, wird schon nach den ersten Kapiteln klar. Breiten Raum widmet Sinn den Gründen für den ökonomischen Abstieg des einstigen Wirtschaftswunderlandes zum europäischen Schlusslicht und der damit einhergehenden Misere am deutschen Arbeitsmarkt.
Der deutsche Arbeitsmarkt befindet sich - verkürzt dargestellt - in Sinns Augen im Würgegriff der Gewerkschaften. Darin liege einer der Hauptgründe des deutschen Abstiegs. Die Gewerkschaften hätten jahrelang die Unternehmer mit überhöhten Lohnforderungen erpresst. Das Ergebnis: Deutschland büßte über die Hochlohnpolitik seine Wettbewerbsfähigkeit ein, was wiederum am Arbeitsmarkt zu einem Desaster führte.
Sinn wirft den Arbeitnehmervertretern nicht etwa Dummheit vor. Vielmehr gezielte, egoistische Interessenpolitik - unter der heute nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa zu leiden hat. "Natürlich haben sie (die Gewerkschaften, Anm.) keine Illusionen über das, was sie anrichten." Und: "Gewerkschaften nehmen die Arbeitslosigkeit, die sie verursachen, billigend in Kauf. Die Arbeitslosigkeit ist geradezu der Erfolgsausweis ihrer Politik, denn gäbe es sie (die Arbeitslosigkeit, Anm.) nicht, so wäre das der sichere Beleg, dass ihre Lohnforderungen zu moderat angelegt sind".
Anzumerken ist, dass Sinn nicht leicht einer ideologisch motivierten Abrechnung mit den Gewerkschaften zu bezichtigen ist. Immerhin entspringt der renommierte Konjunkturforscher keiner neoliberalen Kaderschmiede. Sinn fällt nach den Anschlägen des 11. September 2001 auch mit der Forderung nach einem "keynesianischen Notprogramm" auf.
Österreich als Beispiel
Während sich Deutschland zum Hochlohnland und über eine sukzessive Verkürzung der Arbeitszeit auch noch zum Freizeitpark gewandelt hat, zeigten andere EU-Staaten, wie es geht. Dazu zählt Sinn die Niederlande und auch Österreich. Starke Produktivitätszuwächse bei gleichzeitiger Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften seien deren Erfolgsrezept.
Sinn wirft nicht nur viel Licht auf die Unzulänglichkeiten des deutschen Wirtschaftsstandortes, sondern liefert mit seinem "6+1-Programm" auch ein Lösungskonzept mit. Kurz zusammengefasst: Deutschland muss die Macht der Gewerkschaften brechen, braucht eine Wende bei den Tarifvereinbarungen, eine radikale Steuerreform und mehr Kinder.
Sinns Werk ist Pflichtlektüre für jeden wirtschaftlich Interessierten. Und auch für alle, die an der Aufrechterhaltung des europäischen Wohlfahrtssystems Interesse haben. Sinn bietet mehr als nur eine markig formulierte Kritik am deutschen Weg. Es ist eine klare, mit Fakten untermauerte Absage an den europäischen Weg.
Hans-Werner Sinn (56) zählt zu den einflussreichsten deutschen Ökonomen. Nach seiner Habilitation 1983 in Mannheim war er in Ontario und München tätig. Seit 1999 leitet er das ifo Institut.