Ist Deutschland noch zu retten? - das neue Buch von Hans-Werner Sinn.
Von Peter Felixberger
Der bekannteste Wirtschaftsforscher Deutschlands hat die Gardinenpredigt des Jahres verfasst. Seine Forderungen lassen aufhorchen: Mehr arbeiten, weniger verdienen. Mehr Globalisierung und entfesselte Unternehmen, weniger Steuern und Abgaben, weniger Sozialstaat, weniger Bürokratie und Subventionen, weniger Macht für die Gewerkschaften. Im Rausch der messerscharfen Statistiken und Berechnungen schrammt er jedoch an der Globalisierung vorbei. Von neuen ökonomischen und gesellschaftlichen Leitbildern fehlt jede Spur. Am Ende eine Prise zu viel Zahlenstakkato ohne eine Zielvorstellung, wie wir morgen leben und arbeiten wollen.
Wer wissen will, was Bayerns Ministerpräsident Stoiber denkt, sollte unbedingt dieses dicke Buch lesen. Der Münchner ifo-Präsident hat darin den Teig durchgeknetet, mit dem Stoiber sein derzeitiges Backe-backe-Kuchen-Spiel betreibt. Die Wirtschaft gelte es von allen Fesseln zu befreien, um das Land wieder auf Vordermann zu bringen. Die Leitideen dieser großen Wirtschafts- und Sozialreform, die Sinn macht, sind schnell zusammengefasst: weniger Kostenbelastung, damit die Unternehmen wieder wettbewerbsfähig werden. Weniger staatliche Hilfsgelder, damit die Bürger wieder mehr Verantwortung übernehmen. Weniger Filz und Bürokratie, damit sich die Unternehmer wieder frei und ungehindert auf den Märkten bewegen können. Sinn setzt dabei, wie es im vorletzten Satz des Buches heißt, "alles auf die Karte der Marktwirtschaft". Er singt das Hohelied der ökonomischen Leistungsanreize auf allen Ebenen.
Das Buch beginnt mit einem Wutausbruch. "Zorn erfüllt mich, wenn ich sehe, wie die Zeit nutzlos verstreicht und wir nicht vorankommen, wie Deutschland weiter absackt und dem Zustand näher kommt, wo es als ein Land der kinderlosen Greise seine Kraft verliert und sich schicksalsergeben aus der Geschichte verabschiedet." Leider, so Sinn, werde die Gefahr nicht erkannt. Die Intellektuellen nehmen "selbst die banalsten wirtschaftlichen Zusammenhänge" nicht zur Kenntnis, Fernsehdiskussionen plätschern an der Oberfläche dahin und der Tanz auf dem Vulkan tangiere nur die wenigsten. Die Rente komme weiterhin vom Staat und der Strom aus der Steckdose. Es wird also Zeit, dass wenigstens Sinn die harte und unangenehme Wahrheit ausspricht: "Deutschland ist der kranke Mann Europas."
Und dann heißt es für den Leser: Bitte anschnallen. Mit Höchstgeschwindigkeit rast der Autor durch verblühende Landschaften und ideologische Rauchsäulen. Mit jeglicher früheren Herrlichkeit, so Sinn, sei es endgültig vorbei. "Deutschland wird derzeit beim absoluten Wohlstandsniveau von einem Land nach dem anderen überrundet. Die Wirtschaftskraft ist bereits viel niedriger als in vielen anderen Ländern." Die größte Schuld dafür trage der Sozialstaat. Er "hat das Geld verschlungen, das man auch in die Bildung hätte investieren können, und er hat den Arbeitsmarkt ausgehebelt, indem er bequeme Alternativen zur Erwerbstätigkeit geschaffen hat". Überdies sind die Lohnkosten viel zu hoch, was bei abnehmender Produktivität zum internationalen Wettbewerbsproblem wird.
Klar: Wer seine Waren teuer produziert, aber nicht besser ist als andere, wird in der Globalisierung von kleinen Ländern ausgebootet. Sie produzieren und bieten die gleichen Waren billiger an. Mit der fatalen Konsequenz: Entweder man verlagert seine Produktion in lohnschwache Länder oder man stellt innovativere Produkte als die Konkurrenz her. Ersteres wird vom Mittelstand derzeit massenhaft praktiziert, Letzteres ist das noch nicht überall erkannte Kernproblem.
Die Deutsche Bank hat errechnet, dass zwischen 1998 und 2000 260.000 Arbeitsplätze ins Ausland verfrachtet wurden. Deutsche Unternehmen bieten derzeit 2,6 Millionen Arbeitsplätze im Ausland an. Tendenz steigend. Leider vergisst Sinn in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass die Globalisierung die Unternehmen hierzulande eigentlich zur Steigerung von Produktivität und Innovation zwingt. Noch halten wir uns zwar die billigen Produkte aus Dritte-Welt-Ländern durch Zölle und Subventionen fern, aber nicht mehr lange. Dann wird der zunehmende freie Welthandel für noch mehr Wettbewerbsdruck sorgen.
Als Hochlohnland schauen wir ziemlich in die Röhre, wenn wir nicht neue, innovative Produkte entwickeln, die wir weltweit verkaufen können. Dies ist das künftige Differenzkriterium zu anderen Volkswirtschaften. Nicht die Herabsetzung von Löhnen. Denn hoch qualifizierte Arbeit kann schließlich auch besser bezahlt werden. Das heißt im Klartext: Nischen und Spezialisierungsvorteile erkennen und Wissensvorteile nutzen. Aber wie? Darauf hat Sinn nur vage Antworten. Der Mittelstand könnte es richten, aber nur, wenn "der Marktwirtschaft freier Lauf gegeben wird, und das heißt insbesondere, dass alle Preise und Löhne völlig flexibel reagieren müssen ".
Totale Entfesselung. Lohnkosten also zuerst runter! Des Pudels Kern, wie es Sinn nennt. Dann klappt 's seiner Meinung auch wieder mit mehr Arbeit. "Jeder, der Arbeit sucht, findet Arbeit, wenn man zulässt, dass der Lohn weit genug fällt, denn je weiter er fällt, desto attraktiver wird es für die Arbeitgeber, Arbeitsplätze zu schaffen, um die sich bietenden Gewinnchancen zu nutzen." Zehn bis 15 Prozent Lohnsenkung, so verspricht es Sinn, würden ausreichen, um die Arbeitslosigkeit weitgehend zu beseitigen. Ein mutiges Rechenbeispiel bei 4,5 Millionen Arbeitslosen!
Genau hier liegt jedoch des Pudels Kern an einer Argumentation, die keineswegs Sinn macht: Lohnkosten runter, um die Produktionskosten zu senken, bedeutet aber nur bessere Wettbewerbschancen bei jenen austauschbaren Massenprodukten, die alle anbieten. Nein, der Ausweg für Deutschland in Zeiten der Globalisierung liegt darin, hochwertige und innovative Produkte und Dienstleistungen anzubieten, für die höher bezahlte, hoch qualifizierte Arbeit benötigt wird. Dort liegen die Erlösmodelle für die Wirtschaft von morgen. Wir müssen bessere Waren als die anderen anbieten und nicht mit den Marketing-aggressiven Wolfsrudeln mitheulen. Umkämpfte Massenmärkte mit volatilen Lohnkurven sind in diesem Land nicht die interessanten Zukunftsmarktplätze.
Womit wir die Grenzen des Volkswirts Sinn erreicht haben: Er hat kein konsistentes Leitbild für das Wirtschaften von morgen anzubieten. Keine Antworten auf die Kernfragen: Welche Produkte und Dienstleistungen wollen wir in Zukunft auf den Weltmärkten anbieten? Welche Wissensvorteile müssen wir dafür weiter ausbauen? Und die Frage aller Fragen: Wie wollen wir morgen leben und arbeiten? Laut Sinn ist es nur eine Gesellschaft, in der wir weniger verdienen und mehr arbeiten sollen (Sinns Vorschlag: von 38 auf 42 Wochenarbeitszeitstunden).Besser wäre jedoch eine Gesellschaft, in der wir mehr verdienen, weil wir produktiver und besser sind als andere.
Das Ziel der deutschen Wirtschaft muss daher lauten: Wir müssen mehr ökonomischen Nutzen stiften. Das passiert aber nur mit mehr Grips und Bildung und nicht mit der sturen Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Darüber hinaus muss eine moderne Arbeitsgesellschaft strikt darauf achten, die Selbstentfaltungslinien seiner Mitglieder zu respektieren und zu gewährleisten. Und sie nicht als Kontroll- und Funktionsempfänger zu parken, die dort hingestellt werden, wo sie hinzitiert werden. Das ist kein Klima für höchste Innovationen.
Und obwohl Sinn mit der Zukunft des Wirtschaftens nichts im Sinn hat, empfehle ich dieses Buch zur unbedingten Lektüre. Ja, weil es viele kluge und interessante Vorschläge unterbreitet. Zum Beispiel die Mitbeteiligung von Mitarbeitern an den Unternehmen, um Lohnkürzungen zu kompensieren. Oder weniger Macht für die Gewerkschaften, deren starre Flächentarife mittlerweile dem Starrsinn ihrer Spitzenfunktionäre angeglichen wurden. Ebenso ist klar, dass die Steuern vereinfacht und gesenkt werden müssen. Richtigerweise gegenfinanziert mit der radikalen Kürzung von Subventionen und der Senkung der Staatsquote. Sinns Vorschläge, auch was die Zukunft von Rente und Sozialhilfe betrifft, sind sauber durchgerechnet und durchdekliniert.
Fazit: Hans-Werner Sinn scheitert mit Blick durch seine Volkswirtschaftsbrille an der Komplexität des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft. Aber längst nicht so jämmerlich wie seine anderen Kollegen in diesem Bücherherbst. Sein Rettungsversuch ist aller Ehren wert. Der Blick des Volkswirtes ist hilfreich in der Debatte um eine Neue Ökonomie, die der Frage nachgeht, wie wir morgen wirtschaften und leben wollen. Sinns Buch enthält eine Reihe von Nachhaltigkeitselementen, die uns ökonomisch wettbewerbsfähig halten und dennoch für soziale Integration sorgen. Vor allem appelliert er an die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Einzelnen. In einer neuen Selbstständigenkultur, für die Kooperation und Fürsorge keine Fremdwörter sind, ist der entfesselte Unternehmer, der über Löhne, Steuern und Arbeitszeit das Rad der Wirtschaftsgeschichte zurückdrehen will, aber nicht das Ziel.
Peter Felixberger ist Geschäftsführer und Chefredakteur von changeX.