WIRTSCHAFTSBUCHPREIS DES JAHRES 2003
Von Thomas Bergen, Rolf Dobelli, Harald Ehren und Michael Prellberg
Die Löhne? Zu hoch. Die Renten? Zu üppig. Sozialhilfe? Nicht mehr zu bezahlen. Die Steuern? Steigen und steigen. Ebenso wie die Schulden. 2003 ist das Jahr, in dem die Deutschen nicht länger die Augen davor verschließen, wie dringlich es ist, das Ruder herumzureißen. Frohgemut sieht niemand dabei aus. Schließlich gibt es einen Besitzstand, den jeder am liebsten wahren würde. Wie nennt der Volksmund dieses Dilemma: "Wasch mich, aber mach mich nicht nass." Der Waschlappen bleibt vorerst trocken, denn noch wird geredet, in Kommissionen und Gremien. Jede Bewegung wirkt so langwierig mühsam, dass es eines Zeitraffers bedürfte, um Änderungen zu bemerken.
Zusätzliche Schubkraft wäre nicht schlecht. Das haben sich auch die Juroren gedacht, als sie sich zusammensetzten, um zu beratschlagen, wer in diesem Jahr den Wirtschaftsbuchpreis von Financial Times Deutschland und getAbstract bekommen sollte. Bevor über einzelne Titel diskutiert wird, legt die Jury fest, welches die Themen des Jahres sind. Konsens war schnell gefunden: Globalisierung bleibt ein Dauerbrenner, ebenso ein zeitgemäßeres Verständnis von Leadership. In Deutschland pressiert vor allem ein Thema: Reformen.
Damit war der erste Preisträger fast schon automatisch gekürt: "Ist Deutschland noch zu retten?", fragt Hans-Werner Sinn. Seine Antwort: Ja. Aber es wird hart, Deutschlands bekanntester Volkswirtschaftler argumentiert erbarmungslos. Kein Gedanke daran, die bittere Medizin in süßen Dragees zu verpacken. Lügen dürfen die Politiker, lässt der Leiter des Münchner Ifo-Instituts durchblicken, die müssen ja Wahlen gewinnen. Sinn muss keine Rücksicht nehmen. Und diese Chance nutzt er.
Ohne sich in wissenschaftlichen Begriffen zu verheddern, rechnet Sinn vor, auf welchem Weg sich Deutschland bewegt, wenn es den Kurs nicht ändert - nämlich geradewegs m den Abgrund. Wann die Klippe erreicht wird, kann Sinn sogar auf den Tag genau vorhersagen: am 1. Mai 2004, Tag der Osterweiterung der Europäischen Union. Dann gilt das EU-Recht für Slowaken und Litauer, die in ihrer Heimat für einen Bruchteil deutscher Löhne arbeiten. Die, wenn sie nach Deutschland kommen, fürs Nichtstun vom Sozialamt mehr bekommen als für das Arbeiten daheim.
Was fordert Hans-Werner Sinn also? Runter mit den Löhnen, weniger Macht den Gewerkschaften, eine aktivierende Sozialhilfe (die zudem der Schwarzarbeit den Boden entzieht), eine wirklich radikale Steuerreform, ein Rentensystem, das den Riester-Gedanken weiterentwickelt und Anreize schafft, Kinder zu bekommen. Und nicht zuletzt eine verzögerte Integration von Zuwanderern ins deutsche Sozialsystem. Der Wert von Sinns faktenberstenden Manifest liegt darin, dass er es nicht beim Plädoyer belässt, sondern zugleich konkrete Vorschläge zur Umsetzung liefert. Und die klingen ausgesprochen vernünftig. Eine Behandlung mit Skalpell und harten Medikamenten, schreibt Sinn: "Die Behandlung wird kein Vergnügen sein. Sie wird schmerzen.
Sehr deutsch. In anderen Nationen wird kein "Blut, Schweiß und Tränen"-Ton gepflegt. In den USA beispielsweise. Dort, im Universitätsstädtchen New Haven, sitzt Robert J. Shiller und denkt nach. Über Globalisierung, über die Ängste der Menschen davor und generell über die Ungerechtigkeit in der Welt. Sicherlich, das machen auch andere. Aber Shiller beendet sein Nachdenken nicht mit einem Stoßseufzer, sondern mit einem Buch. Es trägt den sperrigen Titel "The New Financial Order" - auf deutsch: "Die neue Finanzordnung" und ist radikal.
Yale-Professor Shiller entwirft eine komplett neue Weltordnung. Ihr Kerngedanke: Sicherheit steigt durch das Mindern von Risiken. Etwa durch das Einführen einer Weltaktie. Dieses Wertpapier bildet die Bewegungen der Wirtschaftsleistungen aller Nationalstaaten in einem Index ab, auf den sich das Papier bezieht. In den Kursschwankungen der Weltaktie würde sich die Wertveränderung von all unserem Besitz spiegeln", schreibt Shiller. Der Gedanke dahinter: Die größtmögliche Verteilung der Unsicherheit sorgt für das kleinstmögliche Risiko für den Einzelnen.
Utopisch? Durchaus. Denn Shillers logisch durchdachtes und ziseliert ausgearbeitetes Konzept funktioniert nur, wenn Regierungen und Finanzinstitutionen dabei mitziehen, soziale und zwischenstaatliche Ungleichgewichte mit neuen Finanzinstrumenten abzufedern. Und wenn die reichen Länder bereit sind abzugeben.
Ein Yale-Professor als sozialistisch angehauchter Gutmensch? Nein, eher ein Vertreter sozialer Marktwirtschaft: Shillers "New Financial Order" wagt es, zutiefst kapitalistisches Gewinnstreben zu vereinen mit der Vision einer ausgleichenden Zukunftssicherung. Ein weiter Wurf, dorthin, wo die Tagespolitik nicht einmal hinzudenken wagt. Die Jury von getAbstract und FTD honoriert ihn als Wirtschaftsbuchpreisträger in der Kategorie "Globalisierung".
Shiller und Sinn machen klar: Es verändert sich etwas. Schluss mit festgefrästen (Vor-)Urteilen. Etwas Neues entsteht. Der technisch ausgerichtete "How to"-Ansatz der 90er Jahre ist ausgereizt. Technik ist nur ein Vehikel. Entscheidend ist das Denken, ist die geistige Einstellung. Das zeigt sich auch beim Umgang mit Mitarbeitern. Gern wird von Eigenverantwortung, Dialog und Freiräumen gesprochen. In Wirklichkeit dominiert eher "Management by Terror".
Nun gibt es einen Schlag Mensch, der dagegen immun ist: Es sind die Technikfreaks, englisch: Geeks, die sich mit Computern und allem auskennen, das mit Strom oder Ähnlichem betrieben wird. Sie bilden das unsichtbare Rückgrat jedes größeren Unternehmens und mehr noch: Sie sind die Garanten des technologischen Fortschritts. Und sie sind resistent gegen Chefgehabe - was den Chefs nicht passen kann.
Paul Glen, bekennender Geek, gibt Entwarnung in "Leading Geeks". Befehle, warnt der US-amerikanische Berater vor, werden schon aus Prinzip nicht befolgt. Wer als Chef wahrgenommen werden will, sollte sich als Helfer positionieren: als Mensch, der dinge möglich macht. Denn so verstehen sich auch Geeks: Sie lösen Probleme und ermöglichen Dinge. Und dabei möchten sie in Ruhe gelassen werden. Alles, was nicht direkt mit ihrer Arbeit zu tun hat - sogar das Verkaufen ihrer Erfolge - überlassen sie gerne anderen. Ja, selbst den Chefs.
Was also sind die Aufgaben eines Chefs? Seinen Leuten den Rücken frei halten und ihren Wünschen so weit wie möglich nachkommen. Und dass Chefs die Ergebnisse ihrer Mitarbeiter als eigene Erfolge verkaufen - das ist trauriger Standard in den meisten Unternehmen. Insofern liefern die Geeks ein Vorbild, um sich die eigenen Chefs zu erziehen. Dafür hat sich Paul Glen den Preis im Bereich "Leadership" verdient.
Der vierte Preisträger ist Burkhard Spinnen - der fällt ein wenig aus dem Rahmen. Spinnen ist Romancier; vielleicht eher ein Erzähler. Auf alle Fälle ein Mann der Belletristik. "Langer Samstag" heißt sein bekanntester Roman, "Trost und Reserve" und "Kalte Ente" zwei Bände mit Erzählungen, "Belgische Riesen" sein bekanntestes Kinderbuch. Ein Fall für Literaturpreise, normalerweise. Aber normalerweise kommt man über ein Tresengespräch bei einer Hochzeit auch nicht zu dem Angebot, eine Unternehmens- und Unternehmerbiografie schreiben zu sollen. Aber so ist es Burkhard Spinnen ergangen.
Sechs Jahre lang folgte er Walter Lindenmaier, Unternehmer aus, Laupheim. Stolpert in die unbekannte Welt des deutschen Mittelstands - und die eigenen Vorurteile. Spinnen hat etwas Diffuses im Kopf, vom Patriarchen an der Spitze, von findigen Ingenieuren, guten Produkten "made in Germany", vom ehrlichen Kampf um die Kunden. Marktwirtschaft, das ist schon klar, alles geordnet, alles gesittet.
Sechs Jahre später weiß Spinnen: alles ganz anders. Nichts ist geordnet, selten geht es gesittet zu. Unternehmer Lindenmaler balanciert auf einem "schwarzen Grat". Ständig droht der Untergang. Die Geschäftsfreunde entpuppen sich als Intriganten, Banken als Schönwetter-Helfer. Der Betrieb ist "ein Haifischbecken", stellt Spinnen ernüchtert fest. Seine Geschichte über eine Desillusionierung ist zugleich eine Geschichte der Erkenntnis. Für "Der Schwarze Grat" gibt es den Sonderpreis der Jury.