Expertenstreit mit Prof. Hickel

Der Expertenstreit entzündete sich an den Wachstumsthesen von Hans-Werner Sinn aus dem Buch: Ist Deutschland noch zu retten? von Hans-Werner Sinn

FOCUS MONEY Online, Februar 2004

Was sind die besten Rezepte gegen Arbeitslosigkeit, Wachstumsschwäche und leere Staatskassen? Bei FOCUS Online diskutieren Experten, wie der Standort Deutschland zu retten ist. Die Debatte hatte sich an dem Buch „Ist Deutschland noch zu retten?“ von ifo-Chef Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn entzündet.

Das provokantes Sechs-Punkte-Programm für mehr Wachstum zeigt auf, wie es mit dem Standort Deutschland wieder aufwärts gehen kann. In seinem Buch plädiert Professor Sinn für einen radikaleren Umbau des Sozialstaates als bisher von der Bundesregierung geplant. Auf die Wachstumsthesen von Sinn reagierte Professor Hickel vom Bremer Institut für Wirtschaft und Arbeit mit provokanten Gegenthesen, woraufhin sich eine rege Diskussion entfacht hat.

 

 

1. These

 

1. Wachstums-These von ifo-Chef Sinn
Tarifwende: "Deutschland ist bei den Lohnkosten im internationalen Vergleich nicht wettbewerbsfähig. Um dies zu ändern, müssen die Stundenlöhne fallen. Dazu sollte die Arbeitszeit ohne Lohnausgleich verlängert werden - auf mindestens 42 Wochenstunden, wo sie vor 30 Jahren bereits einmal lag."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Deutschland ist Exportweltmeister: Um die Konkurrenzfähigkeit zu messen, muss man die Arbeitskosten je Arbeitnehmer ins Verhältnis zur Produktivität setzen: Dieser Index steigt in den anderen EU-Ländern stärker als bei uns. Gleichzeitig ist Deutschland ein Hoch-Produktivitätsland. Die deutsche Konkurrenzfähigkeit steigt also. Trotz des starken Euro haben die Deutschen im Jahr 2003 ihren Anteil am Welthandel auf zehn Prozent gesteigert - von wegen nicht wettbewerbsfähig!

 

Antwort von ifo-Chef Sinn
Trotz der Aufwertung Exportweltmeister? Absurd, nicht trotz, sondern wegen der Aufwertung! Denn durch die Euro-Aufwertung wurde der deutsche Exportwert (ja selbst der Wert der Exporte innerhalb des Euro-Raumes!) bei der Umrechnung in Dollar rechnerisch um ein Viertel vergrößert, ohne dass real irgendetwas passiert ist. Im Übrigen: Die Deutschen Firmen exportieren zunehmend Güter, die sie gar nicht produziert haben. Der Motor des Audi, der nach Amerika exportiert wird, kommt aus Ungarn, und andere wertvolle Teile kommen aus Tschechien. Der gesamte Audi zählt aber zum Export. Das zeigt Deutschlands Dilemma. Die deutschen Unternehmen bleiben dank des Outsourcing nach Osteuropa zwar wettbewerbsfähig, aber die Arbeiter verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit, weil die Lohnkosten zu hoch sind. Sie sind übrigens hinter Norwegen die höchsten auf der Welt.

Replik von Rudolf Hickel
Nachdem die Weltkonjunktur anzieht, kommt auch wieder die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft zum Tragen. Auch die Aufwertung des Euro gegenüber dem Dollar kann die Exportwirtschaft verkraften. Dabei kommt es nicht auf die absoluten Lohnkosten, sondern die Lohnstückkosten an. In diesem Jahr werden die gesamten Arbeitskosten pro Stunde gegenüber der Steigerung der Produktivität (pro Arbeitsstunde) sogar leicht zurückgehen. Ein Hochinnovationsland macht zugleich ein Hochlohnland möglich. Lohnsenkungswettbewerb führt Deutschland in den ökonomischen Niedergang. Es kommt auf den Wettbewerb um Innovationen an. Niemand bestreitet, dass etwa Audi seine Motoren in PKWs exportiert, während die Maschinen in Osteuropa produziert wurden. Die differenzierten vielen Ingenieurleistungen werden immer noch in Deutschland angeboten.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Leider geben die Lohnstückkosten ein verzerrtes Bild. Sie sind als Relation von Lohnkosten pro Stunde und Arbeitsproduktivität definiert. Die Arbeitsproduktivität wird aber nur bei den Unternehmen gemessen, die die hohen Löhne überleben. Die Produktivität von Null bei denjenigen Arbeitnehmern, die entlassen werden und keinen Job mehr finden, fällt unter den Tisch. Korrigiert man diesen Fehler, dann lag der tatsächliche Produktivitätszuwachs während der letzten zwanzig Jahre um 0,8 Prozentpunkte unter dem gemessenen Zuwachs, und die tatsächlichen Lohnstückkosten sind heute um 15% höher als die gemessenen. Der Rechenfehler führt dazu, dass die Gewerkschaften mit überzogenen Lohnforderungen durch Vernichtung minder produktiver Firmen einen künstlichen Produktivitätszuwachs erzeugen, der in der Zukunft neue Lohnforderungen begründet. Das Ergebnis ist eine verhängnisvolle Lohnspirale, die Massenentlassungen erzeugt, während die Lohnstückkosten gerade wegen dieser Entlassungen konstant bleiben.

2. These

 

2. Wachstums-These von ifo-Chef Sinn
Weniger Macht den Gewerkschaften: 
"Mit Hilfe der Tarifautonomie wurden Lohnkartelle durchgesetzt. Die Löhne haben das Niveau von Angebot und Nachfrage überschritten. Die Gewerkschaften versuchen, höhere Löhne zu erzwingen, als der Markt sie hergibt. Es muss wirksame Öffnungsklauseln in Tarifverträgen geben und der gesetzliche Kündigungsschutz sollte abgeschafft werden, weil er neue Arbeitsplätze verhindert."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Sehschwäche auf dem "Nachfrage-Auge": Lohnzurückhaltung bringt nichts, das zeigt die Vergangenheit. Trotz Nullrunden sind Stellen abgebaut worden. Das wirkliche Problem: Wegen der flauen Nachfrage sind die Kapazitäten der Betriebe nicht ausgelastet. Deshalb investieren die Unternehmer nicht, der Job-Motor springt nicht an. Lösung: Die Binnennachfrage stärken!

 

Antwort von ifo-Chef Sinn
Mehr Binnennachfrage ist sicherlich gut. Aber sie besteht nicht nur aus Konsum, sondern auch aus Investitionen. Ob ein Arbeitnehmer ein Auto als Konsumgut oder ein Unternehmer ein Auto als Investitionsgut kauft, ist dem Autohersteller egal. Je niedriger die Lohnkosten, desto mehr Maschinen, Gebäude und Anlagen kaufen die Investoren, desto schneller kommt der Aufschwung. Im Übrigen: wer hochwertige und preisgünstige Waren anbieten kann, findet auf der ganzen Welt Nachfrager. Wie wenig es auf die Binnennachfrage ankommt, zeigen die neuen Länder. Dort übersteigt der Verbrauch von Waren und Dienstleistungen die eigene Erzeugung um 45%. Trotzdem kommt die Wirtschaft nicht vom Fleck. Die Nachfrage der neuen Bundesbürger wandert nach Mallorca, nach Japan, nach Frankreich und sonst wo hin, aber selbst haben sie wenig, was sie dorthin verkaufen könnten. Für das, was sie bieten, sind sie zu teuer.

Replik von Rudolf Hickel
Immerhin wird jetzt die Bedeutung der binnenwirtschaftlichen Nachfrage anerkannt. Sie besteht in der Tat nicht nur aus Konsum. Auch die öffentlichen Ausgaben entscheiden über die Aufträge der Wirtschaft. Der Aderlass bei den öffentlichen Investitionen und die staatliche Einsparpolitik kosten Nachfrage und Umsätze. Die Nachfrage nach Investitionen darf jedoch nicht der Nachfrage nach privatem Konsum gleichgestellt werden. Investitionen sind am Ende auf Konsum angewiesen. Warum springt denn trotz deutlicher Kostenentlastungen – auch durch zurückhaltende Lohnpolitik – der Investitionsmotor nur zögerlich an? Die erwirtschafteten Gewinne fließen eben nicht in neue Arbeitsplätze, sondern in lukrative Finanzanlagen irgendwo in der Welt. Der Kasinokapitalismus lässt grüßen. Dieses Kapital fehlt in Deutschland – nicht wegen zu hoher Löhne, sondern wegen zu großer Profitgier.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Die Profitgier der Kapitalisten ist in der Tat der Grund dafür, dass das Kapital in die Niedriglohnländer wandert. Aber was folgt daraus für unser Thema? Gar nichts! Da die Kapitalisten am längeren Hebel sitzen und sich nicht um deutsche Befindlichkeiten scheren, rennen wir vor die Wand, wenn wir dennoch überhöhte Löhne verteidigen wollen. Nun kann man natürlich daran denken, die Kapitalisten abzuschaffen und das Kapitel gesellschaftlich verwalten zu lassen. Aber das haben wir schon einmal vergebens probiert. Ein System, das auf solche Lösungen setzt, rennt ebenfalls vor die Wand. Die Beule schmerzt uns Deutsche immer noch.

3. These

 

3. Wachstums-These von ifo-Chef Sinn
Weniger Geld fürs Nichts-Tun, mehr Geld für Jobs: "Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe steht zwar schon auf der Agenda. Das reicht aber bei weitem nicht, denn die Sozialhilfe ist viel zu hoch. Wer als Sozialhilfeempfänger einen Job annimmt, darf bis zu 400 Euro dazuverdienen."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Existenzsichernde Sozialhilfe: Die Sozialhilfe sei zu üppig - das ist eine Stammtisch-Parole. Es lohne daher nicht, eine gering bezahlte Arbeit anzunehmen. Der Abstand zwischen Stütze und Lohn ist keineswegs zu gering: Mehr als 600 000 Menschen haben nur rund 375 Euro im Monat. In Wirklichkeit sind die Jobs des Niedriglohnsektors zu schlecht bezahlt. Übrigens: Etwa die Hälfte der 1,2 Millionen Stütze-Bezieher sind Kinder.

 

Antwort von ifo-Chef Sinn
Nein, der Abstand ist nicht zu gering, aber die Lohnansprüche, die der Sozialstaat aufbaut, sind zu groß, und wegen der hohen Lohnansprüche fehlen Jobs. Der Sozialstaat bezahlt das Nichtstun und drückt dadurch die Löhne für einfache Arbeit hoch. Er agiert wie ein Wettbewerber der privaten Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb hat Deutschland die höchste Arbeitslosigkeit bei den gering Qualifizierten unter allen OECD-Ländern. Das kann man ändern, und zwar ohne den Sozialstaat abzubauen. Der Staat muss sein Geld fürs Mitmachen statt fürs Nichtstun zahlen. Dann agiert er als Partner statt als Konkurrent der Wirtschaft. Die Löhne der gering Qualifizierten fallen, es entstehen Jobs, und in der Summe aus Lohn und Zuzahlung des Staates haben die gering Qualifizierten mehr Geld in der Tasche als heute. Unter dem Namen aktivierende Sozialhilfe oder Hessen-Modell liegen die Vorschläge auf dem Tisch.

Replik von Rudolf Hickel
Sinns Weltbild reduziert sich auf zu hohe Lohnansprüche. Der Blick auf reine Fakten wirkt aufklärerisch. Was aber, wenn die Profitansprüche der Unternehmer und Aktionäre zu hoch sind und diese die Unternehmen in die Knie zwingen? Soziale Leistungen sollen gesenkt werden, um die niedrigen Löhne wieder aufzuwerten. Dabei schreibt die Verfassung zu Recht vor, dass die Sozialleistungen das Existenzminimum absichern müssen. Heute nehmen Beschäftigungsverhältnisse zu, deren Entlohnung nicht mehr zum Leben ausreicht. In den USA nennt man das „working poor“. Müssen deshalb die Sozialleistungen auf das Niveau nicht mehr existenzsichernder Entlohnung abgesenkt werden? Nein, Lohndumping müsste durch Mindestlöhne gestoppt werden. Der Zwang, mit dem erwerbsfähige Sozialhilfebezieher und Langzeitarbeitslose in den Niedriglohnsektor gedrängt werden, lässt die Armut steigen.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Überhöhte Mindestlöhne führen zur Arbeitslosigkeit, denn man kann keinen Unternehmer zwingen, bei der Einstellung von Arbeitnehmern Verluste zu machen. Wer mehr kostet, als er an Werten erzeugt, findet in der Marktwirtschaft nun einmal keine Stelle. Durch die aktivierende Sozialhilfe des ifo Instituts, also ein System von Lohnzuschüssen für Geringverdiener, wird es möglich, jedermann weniger kosten zu lassen, als er an Werten erzeugt, ohne dadurch sein Einkommen zu senken: Die Löhne können fallen, doch die Zuschüsse fangen die Einkommensnachteile auf. Wegen der fallenden Löhne entstehen Jobs, und es entwickelt sich sozialverträglich der Niedriglohnsektor, der uns so dringend fehlt. Wer erwerbsfähig ist, aber dennoch keinen Job findet, kann notfalls zur Kommune gehen und dort seine alte Sozialhilfe weiter beziehen, wenn er dafür acht Stunden am Tag für eine Leiharbeit im privaten Sektor zur Verfügung steht. Beim ifo-Vorschlag fällt wirklich niemand durch das soziale Netz.

4. These

 

4. Wachstums-These von Ifo-Chef Sinn
Zuwanderung begrenzen: "Die staatliche Umverteilung lockt mehr Zuwanderer nach Deutschland, als wir gebrauchen können. Die europäische Sozialunion wird nicht funktionieren, denn die deutsche Sozialhilfe liegt derzeit beim Drei- bis Sechsfachen der Nettolöhne von Industriearbeitern in den osteuropäischen Beitrittsländern."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Zuwanderung gestalten: Es stimmt: Die deutsche Sozialhilfe ist höher als die Nettolöhne von Industriearbeitern in den osteuropäischen Beitrittsländern. Sollten deswegen Sozialhilfe und Löhne in Deutschland an den dortigen Verhältnissen ausgerichtet werden? Das wäre "Sinn"-los. Und: Mit dem EU-Beitritt wird es in Osteuropa zu einem ökonomischen Aufschwung kommen, in dessen Zuge Löhne dort ebenfalls steigen werden.

 

Antwort von Ifo-Chef Sinn
Während der 30 Jahre hatten wir eine Zuwanderung in die Arbeitslosigkeit. Da die Löhne der gering Qualifizierten durch die Gewerkschaften und den Sozialstaat künstlich hochgetrieben wurden, fehlten immer mehr Stellen. Die Zuwandernden nahmen die einfachen Jobs, und gering qualifizierte deutsche Arbeitnehmer ließen sich in den Sessel drücken, den der Sozialstaat für sie bereit hielt. Damit die Zuwanderung in die Arbeitslosigkeit aufhört, ist die Umstellung des alten Sozialsystems auf Zuzahlungen zur Arbeit unerlässlich. Dann fallen die Löhne der gering Qualifizierten, es gibt zusätzliche Stellen für die Zuwanderer, und dennoch verhindern die Zuzahlungen, dass die Einkommen der Einheimischen fallen. Gleichzeitig reduziert sich der Einwanderungsdruck. Angesichts der Osterweiterung der EU und der riesigen Lohnunterschiede im Vergleich zu uns besteht hier ganz dringender Handlungsbedarf.

Replik von Rudolf Hickel
Gegen alle Herausforderungen wird das Allheilmittel Lohnsenkung eingesetzt. Auch an der Zuwanderung sind nun die faulen Arbeitslosen, die sich im „Sessel des Sozialstaats“ vergnügen, schuld. Da werden die Schwachen gegen die noch Schwächeren ausgespielt. Nach dem Rezept von Sinn muss der Staat Zuzahlungen leisten, um die für die Existenzsicherung nicht mehr ausreichenden Löhne zu erhöhen. Dieser Vorschlag ist zynisch gegenüber den Arbeitslosen, die ohne eigene Schuld ihren Job verloren haben, aber auch gegenüber den billigst eingekauften Einwanderern. Sicherlich zeigen sich massive Lohnunterschiede zwischen Ost- und Westeuropa. Viele Unternehmen werden dieses Gefälle zu nutzen wissen. Aber mit der ökonomischen Aufwärtsentwicklung der Länder Osteuropas wachsen auch dort die Löhne und Gehälter. Dann bleibt nur noch der Weg in immer weiter entfernte Billiglohnländer bei wachsenden Transportkosten.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Wer glaubt, wir könnten mit den Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes warten, bis die Osteuropäer ihren Lohnvorsprung verloren haben, unterschätzt die Zeiträume, die für Anpassungen erforderlich sind. Selbst wenn die Konvergenz der Löhne zwischen Ost- und Westeuropa in Zukunft doppelt so schnell voranschreitet wie die Konvergenz der Löhne in der alten EU während der letzten dreißig Jahre, werden die polnischen Löhne im Jahr 2010 bei einem knappen Drittel und im Jahr 2020 nicht einmal bei der Hälfte der westdeutschen Löhne liegen. Wir müssen uns deshalb dem Niedriglohnwettbewerb stellen. Die Polen und Tschechen, die ab 1. Mai in der EU sind, werden auch weiterhin nicht danach fragen, ob wir uns an dem Wettbewerb beteiligen wollen. Das heißt nicht, dass die deutschen Löhne für gering Qualifizierte auf das polnische Niveau herunter fallen müssen. Die deutschen Standortvorteile rechtfertigen noch auf längere Zeit deutlich höhere Löhne, nur eben nicht die Löhne, die wir haben. Die haben uns nämlich schon ohne die Ostkonkurrenz Arbeitslosigkeit gebracht.

5. These

 

5. Wachstums-These von ifo-Chef Sinn
Radikale Steuerreform: "Bei Gehaltserhöhungen fließen für jeden weiteren verdienten Euro 66 Cent an den Staat. Gegenvorschlag: Es gibt nur noch vier Steuersätze: 0, 15, 25 und 35 Prozent. Für Kapitalerträge 20 Prozent. Gewinne von Unternehmen einheitlich 35 Prozent, worin 10 Prozent Gewerbesteuer für die Kommunen enthalten sind. Eine Gegenfinanzierung erfolgt durch eine radikale Kürzung der staatlichen Subventionen."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Ökonomisch gerechte Besteuerung: Das Sinnsche Steuer-Einmaleins übersieht drei Ziele: Erstens müssen die Steuereinnahmen reichen, um die wichtigen öffentlichen Aufgaben zu finanzieren. Es sollten mehr Steuern für kommunale Investitionen verwendet werden. Zweitens muss die Steuerlast nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit (gerecht) verteilt werden. Drittens gibt es gut begründete Steuerausnahmen.

 

Antwort von ifo-Chef Sinn
So ist es. Es ist aber nicht gerecht, wenn der Staat dem durchschnittlichen Industriearbeiter auch nach der Steuerreform zwei Drittel des Ergebnisses einer zusätzlichen Leistung wegnimmt (genau 64,4%). Damit sind wir Weltmeister. Kein Wunder, dass die Schwarzarbeit blüht und wir ein Volk von Heimwerkern geworden sind. Damit der Unsinn aufhört, muss wieder mehr von dem übrig bleiben, was man erarbeitet. Wir haben die Umverteilung von den Arbeitenden zu den Empfängern sozialer Leistungen übertrieben. 40% der deutschen Wähler beziehen Sozialleistungen und Renten vom Staat, und der Staat absorbiert 57% des Volkseinkommens für seine Zwecke. Das ist tatsächlich schon „DDR light“, wie der Jurist Baring sagt. Wir müssen wieder lernen, dass Einkommen nur entstehen können, indem man eine Leistung an andere Menschen verkauft, und nicht, indem man anderen Leuten auf dem Wege über den Staat Geld aus der Tasche ziehen.

Replik von Rudolf Hickel
Aktuelle Zahlen belegen, dass die Steuerquote im internationalen Vergleich zu niedrig ist. So wird der Anteil aller Steuern am Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr auf nur noch 21,5 % sinken. Die durchschnittliche Belastung des Industriearbeiters ist sicherlich zu hoch. Grund dafür ist die dramatische Umverteilung der Steuerlast: Während die Lohnsteuer mit 80 % zum Aufkommen aus der Einkommenssteuer beiträgt, liegt der Anteil der Körperschaftsteuern von Kapitalgesellschaften heute nur noch bei 5 %. Vermögen wird gegenüber dem gesamten Steueraufkommen gar nur mit 2 % belastet. Wir brauchen eine Umverteilung der Steuerlast nach dem Prinzip der ökonomischen Leistungsfähigkeit und Steuerwahrhaftigkeit, um Vertrauen zurückzugewinnen. Also: Entlasten wir den Industriearbeiter durch eine angemessene Steuerleistung der Unternehmen.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Ob Abgaben als Steuern oder Beiträge gezahlt werden, ist der Wirtschaft egal. In jedem Fall verteuern sie den Standort. Es ist wahr, Deutschland hat im internationalen Vergleich normale Steuersätze, aber wenn man die Sozialbeiträge hinzuaddiert, sind wir bei der Grenzbelastung des typischen Industriearbeiters Weltmeister. Leider können wir diese Lasten nicht statt dessen den Unternehmen aufbürden, denn die würden weglaufen. Die Standortverlagerungen würden noch schneller erfolgen, und durch den Verlust von Arbeitsplätzen und Lohnerhöhungsspielräumen würden die deutschen Arbeiter noch mehr verlieren, als wenn sie selbst die Lasten tragen. Nein, der einzige Weg aus der Misere liegt in einer Verringerung der Einnahmen und Ausgaben des Staates. Mehr Einkommen muss bei denen verbleiben, die es erzeugen.

6. These

 

6. Wachstums-These von ifo-Chef Sinn
Mehr Kinder, mehr Rente, mehr Fortschritt: "Wegen der demografischen Krise muss das ökonomische Motiv, Kinder in die Welt zu setzen, gestärkt werden. Bis zu einem Maximum von drei Kindern bekommt man pro Kind eine Zusatzrente. Wer weniger als drei Kinder großzieht, muss einen Sparvertrag für die Riester-Rente abzuschließen."

Die Gegenthese von Rudolf Hickel
Mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Der Vorschlag, mit einer Zwangsabgabe den Geburtenrückgang einzudämmen und die Finanzierung der Rente zu sichern, ignoriert die wirklichen Belastungen von Familien. Familie und Beruf müssen in Zukunft besser zu vereinbaren sein. Es muss mehr Kindergartenplätze und betreuende Ganztagesschulen geben. Die Bedingungen für einkommensschwache Alleinerziehende müssen verbessert werden.

 

Antwort von ifo-Chef Sinn
Wir haben zu wenig Kinder, und deshalb wird die gesetzliche Rente in dreißig Jahren nicht mehr reichen. Sie wird in Relation zu den Löhnen im Durchschnitt nur noch halb so hoch sein wie heute und nicht einmal das Sozialhilfeniveau erreichen. Deshalb muss man aufstocken. Wer heute Kinder großzieht, soll später eine zusätzliche umlagefinanzierte Rente erhalten, eine „Kinderrente“. Wer keine Kinder hat, muss das Geld, das er nicht für die Kindererziehung braucht, zum Riestersparen verwenden, um seine Rente auf diese Weise aufzustocken. So leistet jeder einen fairen Beitrag zur Rentenaufbesserung. Da sich die Pflicht-Ersparnis mit jedem Kind, das geboren wird, verringert, haben die jungen Familien den Liquiditätsvorteil, wenn sie ihn brauchen, und sie wagen es dann auch wieder eher, sich für Kinder zu entscheiden. Nur mit neuen Kindern kehren Fortschritt und Dynamik in unser Land zurück.

Replik von Rudolf Hickel
In der Tat, wir haben zu wenige Kinder. Und dieser Trend wird sich fortsetzen. Niemand kann etwas dagegen haben, Familien mit Kindern einen Ausgleich für Mehrbelastungen zu geben. Dies wurde bisher über die Steuerpolitik organisiert. Der Vorschlag von Sinn, Kinderlose sollten im Ausmaß der eingesparten Kosten für Kinder einen Teil der Rente der Familien mit Kindern finanzieren, ist jedoch nicht unbedingt gerecht. Doch es ist Vorsicht geboten bei der Suche nach den Ursachen für die teilweise ja auch ungewollte Kinderlosigkeit: Es ist besser, über das Steuersystem die Allgemeinheit am Ausgleich für Zusatzlasten von Familien mit Kindern zu beteiligen. Dabei wird auch übersehen, dass es flächendeckend vieler Einrichtungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bedarf. Mehr Rente nützt den Familien nichts, wenn die Eltern die massive Herausforderung durch Kinder und Beruf nicht bewältigen können.

Abschließende Stellungnahme von Hans-Werner Sinn
Es kann nicht die Rede davon sein, dass Kinderlose einen Teil der Rente der Familien mit Kindern finanzieren sollen. Das ist eine absurde Verdrehung meines Vorschlags. Der Kern des Vorschlags ist, dass Kinderlose einen Teil ihrer Rente selbst finanzieren sollen und nur noch teilweise von den Kindern anderer Leute finanziert werden, wenn sie alt sind. Der Vollkaskoschutz gegen Kinderlosigkeit, den die Rentenversicherung bislang geboten hat, soll zurück genommen werden. Ich übersehe nicht, dass junge Familien entlastet werden müssen, wenn sie ihre Kinder großziehen. Genau deshalb soll ja die Pflicht zum Riestersparen entfallen, wenn man Kinder in die Welt setzt. Dann steht das Geld, das sonst zur Rentensicherung am Kapitalmarkt hätte angelegt werden müssen, den Eltern zur Verfügung, wenn sie es brauchen.