Deutschland fungiert in der Krise als "Stoßdämpfer der Welt"

Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Wiwo.de, 20.06.2009

In der globalen Krise wird die Exportfixierung der deutschen Wirtschaft zur Last. Jetzt rächt sich, dass wir arbeitsintensive Binnensektoren vernichtet haben, sagt Hans-Werner Sinn.

Wenn es eine Zahl gibt, die das Ausmaß der Wirtschaftskrise besonders eindringlich symbolisiert, dann ist es diese: Die deutschen Warenexporte sind im April im Vorjahresvergleich um 29 Prozent eingebrochen – so viel wie nie zuvor seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen 1950. Die bislang höchsten Einbrüche wurden im ersten Halbjahr 1993 mit etwa 16 Prozent verzeichnet. Nachdem die Auslandsaufträge im verarbeitenden Gewerbe im Januar und Februar um 42 Prozent zurückgegangen waren, kam der Einbruch zwar nicht überraschend. Aber beängstigend ist er allemal.

Deutschland wird von den Schockwellen der US-Finanzkrise in besonderem Maße erschüttert. Durch unsere Exportlastigkeit sind wir unfreiwillig in die Rolle des Stoßdämpfers der Welt geraten. Während die USA im ersten Quartal im Jahresvergleich ihre annualisierten Warenimporte um 361 Milliarden Dollar stärker schrumpfen ließen als die Exporte und China seinen Handelsüberschuss um 71 Milliarden Dollar vergrößern konnte, hat sich Deutschlands annualisierter Handelsüberschuss um 168 Milliarden Dollar verringert. Von der Sache her ist das ungefähr dasselbe, als hätte unser Land zugunsten der Welt ein gigantisches Konjunkturprogramm dieser Größenordnung verabschiedet.

Das ist schön für die anderen Länder, aber nicht für uns, zumal wir dafür keine Lorbeeren bekommen, sondern im Gegenteil fortgesetzten Anschuldigungen ausgesetzt sind, wir täten finanzpolitisch nicht genug für die Weltkonjunktur. Kein anderes großes Land wird derzeit von außen so stark gebeutelt wie Deutschland. Auch bei den Abschreibungsverlusten auf die strukturierten Wertpapiere sind wir dank unserer gewaltigen Kapitalexporte voll dabei. Deutschland hat zwar ein besseres Geschäftsmodell als Großbritannien, wo man sich von der realen Exportwirtschaft weitgehend verabschiedet hat, aber es zeigen sich auch Risse im deutschen Modell. Dass es keinen Sinn gemacht hat, Porsches gegen Lehman-Brothers-Zertifikate zu verkaufen und sich dann der Exportweltmeisterschaft zu rühmen, dürfte inzwischen hinreichend klar sein.

Das Grundproblem aber hat mit der aktuellen Krise nichts zu tun: Über Jahre hinweg hat Deutschland mit seiner nivellierenden Lohnpolitik, durch die es zum Weltmeister bei der Arbeitslosenquote der gering Qualifizierten wurde, seine arbeitsintensiven Binnensektoren vernichtet. Das Dienstleistungsgewerbe wurde dezimiert. Die arbeitsintensiven Sektoren des verarbeitenden Gewerbes, von der Textilindustrie bis zur Feinmechanik, gab man übermäßig rasch der internationalen Niedriglohnkonkurrenz preis.

Der Strukturwandel war zwar nicht prinzipiell falsch. Doch was in Deutschland geschah, kam einer Massenflucht aus den Binnensektoren gleich, die jedes Maß vermissen ließ. Das Kapital und die Talente flohen aus den arbeitsintensiven Binnensektoren, weil sie Angst vor den Fesseln einer fehlgeleiteten Sozialpolitik hatten, die der internationalen Niedriglohnkonkurrenz mit einer Hochlohnkonkurrenz auf heimischen Arbeitsmärkten entgegentrat. Ein Teil des Kapitals floh ins Ausland; das erklärt den hohen deutschen Exportüberschuss. Anstatt in Deutschland zu investieren, haben viele Unternehmen lieber Maschinen ins Ausland exportiert und dort die Arbeitsplätze geschaffen, deren Verlust man nun in Deutschland beklagt.

Die Deutschen sparen wie die Weltmeister, aber sie investieren nicht. Deutschland hatte zuletzt eine gesamtwirtschaftliche Sparquote von 13,1 Prozent des Nationaleinkommens, doch lag seine Investitionsquote nur bei 5,4 Prozent. Wie in den Vorjahren war das vermutlich wieder der niedrigste Wert aller OECD-Länder. Der Überschuss der Ersparnisse über die Investitionen – 2008 immerhin 166 Milliarden Euro oder 7,7 Prozent des Nationaleinkommens – floss ins Ausland und verschaffte den Ausländern die Finanzmittel, mit denen sie dann deutsche Güter kaufen konnten.

Ein anderer Teil des Kapitals floh in die Exportindustrien, wo er, insbesondere auf den Endstufen der Produktion, die Wertschöpfung im Export im Übermaß aufblähte (Basar-Effekt). Deutschland durchlebte einen pathologischen Exportboom. Zwar war der Zuwachs der Wertschöpfung bei den Ausfuhren für sich genommen eine feine Sache, er reichte aber nicht aus, den Verlust an Wertschöpfung bei den Binnensektoren auszugleichen, durch den er erkauft worden war. Das Kapital nahm nämlich nur die qualifizierten Arbeitnehmer zur Gänze in die Exportindustrien mit – und überließ einen Teil der ungelernten Arbeitskräfte mitsamt ihrer potenziellen Wertschöpfung dem Sozialstaat. Kein Wunder, dass Deutschland – trotz einer passablen Performance im letzten Boom – in der Zeitspanne von 1995 bis 2009 beim Wirtschaftswachstum ganz hinten gelandet ist. Während die alten EU-Länder in dieser Zeitspanne um 27,1 Prozent wuchsen, legte Deutschland gerade mal um 14,3 Prozent zu. Nur Italien hatte eine noch schlechtere Performance.

Immerhin: Der Wandel zu einem besseren Geschäftsmodell ist mit der Agenda 2010 angelegt worden. Die Agenda wird helfen, den Binnensektor weiter zu entwickeln und die verzerrten Wirtschaftsstrukturen unseres Landes allmählich wieder ins Lot zu bringen. Auch hilft sie jetzt bei der Bewältigung der Krise. Umso gefährlicher sind die nicht enden wollenden Attacken der Politik auf Kernelemente der Reformen. Mit den jüngsten Mindestlohngesetzen etwa hat eine schleichende Konterrevolution stattgefunden, die das alte Geschäftsmodell wieder zu verfestigen und das deutsche Phlegma zu verlängern droht.