Mehrarbeit kann der Weg aus der Krise sein
Die künstliche Aufregung, die anlässlich der Rückkehr von zwei Siemens-Werken zur 40-Stunden-Woche inszeniert worden war, hat sich gelegt. Beide Tarifparteien haben im Grunde kein Interesse daran, dass noch mehr Unternehmen als bislang schon an der Öffnungsklausel im Tarifvertrag Appetit finden. An die hundert Firmen verhandeln angeblich schon mit ihren Betriebsräten über längere Arbeitszeiten, und die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen. Dennoch wird die grundsätzliche Bedeutung verlängerter Arbeitszeiten heruntergespielt. Denn Verhandlungen auf betrieblicher Ebene, wie bei Siemens, unterlaufen jenes Kartell, mit dem die Tarifparteien - Arbeitgeberseite ebenso wie Arbeitnehmervertreter - seit Jahren ihre gesellschaftliche Machtposition verteidigen und dabei die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands aufs Spiel setzen. Dafür rüsten die Gewerkschaften ihre publizistischen Bataillone mit Argumenten auf, die den volkswirtschaftlichen Schaden der Rückkehr zur 40-Stunden-Woche oder von unbezahlter Mehrarbeit generell belegen sollen.
Drei Argumente
Es sind im Grunde drei Argumente, die in verschiedenen Abwandlungen immer wieder auftauchen. Erstens: das Kaufkraftargument. Die Mehrarbeit sei de facto eine Lohnkürzung; geringere Einkommen aber hätten Konsumausfall zur Folge, würden das Wachstum schwächen und damit Arbeitsplätze in Deutschland vernichten. Zweitens: das Job-Argument. Die Mehrarbeit verhindere die Einstellung neuer Arbeitskräfte und damit den Abbau der Arbeitslosigkeit bzw. führe bei fehlendem Wachstum sogar direkt zu Entlassungen. Drittens: das Exportargument. Die mit der Mehrarbeit intendierte Senkung der Lohnstückkosten sei zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit gar nicht nötig, wie der anhaltende Exportboom der deutschen Wirtschaft zeige. Alle drei Argumente verkennen, dass es sich bei Deutschland nicht um eine geschlossene Volkswirtschaft oder eine statische Wirtschaft handelt, deren Wirkungszusammenhänge sich wie in der Wirtschaftstheorie auf der Basis von Ceteris-paribus-Annahmen analysieren ließen. Es ist ja nicht so, dass die Alternative zur Mehrarbeit die Beibehaltung der kürzeren Wochenarbeitszeit bei unveränderter Beschäftigung und Bezahlung wäre. Die Alternative wäre vielmehr der Abbau von Beschäftigung bis zur Schließung eines Werkes, weil die Produkte im Preiswettbewerb mit ausländischen Erzeugnissen nicht konkurrenzfähig sind. Dann allerdings würde es zu Einbußen der inländischen Kaufkraft und Nachfrage kommen, weil die Lohnersatzleistungen deutlich niedriger liegen und ihre Finanzierung die Lohnnebenkosten der noch vorhandenen Arbeitsplätze weiter in die Höhe treibt.
Der Hinweis, dass die Lohnstückkosten in Deutschland in den zurückliegenden Jahren kaum noch gestiegen und teils sogar gesunken sind, ist zwar korrekt. Das ändert aber nichts daran, dass sie im Vergleich selbst zu europäischen Wettbewerbern immer noch höher liegen und es im Standortwettbewerb in der Regel nicht um Produktionsverlagerungen von Deutschland nach Frankreich, Belgien oder Italien geht, sondern nach Osteuropa oder China. Der Exportboom als Kronzeuge vermeintlicher Wettbewerbsfähigkeit des Standortes entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Zeuge der Gegenpartei. Ein Beispiel: Gerade dieser Tage hat ein Vorzeigeunternehmen unserer Exportindustrie, der Sportfahrzeughersteller Porsche, seinen Zwischenbericht vorgelegt und vom hervorragenden Verkauf seines Geländewagens Cayenne berichtet (vgl. BZ vom 1. Juli). In die deutsche Exportstatistik geht jeder ins Ausland verkaufte Geländewagen zu 100 % seines Wertes ein. Doch 88 % dieser Wertschöpfung findet gar nicht im Montagewerk in Leipzig statt, sondern kommt als Zulieferung aus Bratislava. Ähnlich, mit unterschiedlichen Wertschöpfungssätzen, verhält es sich bei nahezu allen deutschen Exportartikeln. Die als Argument ins Feld geführte Wettbewerbsfähigkeit kommt also erst durch billigere ausländische Wertschöpfungsanteile zustande. Vorübergehend ist es zwar möglich, durch billigere Zulieferungen aus dem kostengünstigeren Ausland Arbeitsplätze im Inland nicht nur zu halten, sondern neue Stellen zu schaffen. Doch irgendwann stößt man beim Hochfahren des Auslandsanteils im Kostenmix an Grenzen. Dann geht es - wie in den aktuellen Fällen der Rückkehr zur 40-Stunden-Woche - darum, ob ein gewisser Prozentsatz von Wertschöpfung noch in Deutschland verbleiben kann oder auch der letzte Rest aus Kostengründen ins billigere Ausland abwandert.
Eine Basar-Ökonomie
Wirtschaftsforscher beobachten das Auseinanderklaffen von Produktion und Wertschöpfung in Deutschland schon seit Mitte der neunziger Jahre. Der Präsident des Ifo-Instituts, Hans Werner Sinn, hat dafür den eingängigen Begriff von der "Basar-Ökonomie" geprägt, die die Welt mit attraktiven Waren beliefert, aber selbst einen immer geringeren Wertschöpfungsanteil selbst beisteuert. Es mag uns ja - wie am Donnerstag den neuen Bundespräsidenten Horst Köhler in seiner Antrittsrede vor dem Deutschen Bundestag - mit Stolz erfüllen, dass der bei der Europameisterschaft in Portugal eingesetzte nahtlose Fußball eine deutsche Entwicklung ist. Produziert wird er dennoch in Asien. Wer glaubt, dass Deutschland mit dieser Art von Arbeitsteilung wenn nicht als Industrienation, so dann doch als Dienstleistungsnation eine Zukunft haben kann, macht sich etwas vor. Ohne industrielle Basis gibt es auf Dauer auch keine Dienstleistungen. Das Kaufkraftargument zieht nicht. Zum einen bedeutet unbezahlte Mehrarbeit, dass die Lohn- und Gehaltssumme gleich bleibt. Warum sollte also weniger konsumiert werden? Gegenteilige Effekte sind zu erwarten. Denn dank niedrigerer Kosten werden bei funktionierendem Wettbewerb auch die Preise sinken und zusätzliche Nachfrage auslösen. Eine Deflationsgefahr mit schrumpfenden Löhnen, sinkenden Steuereinnahmen und rückläufigem Sozialprodukt jedenfalls geht von solch moderaten Veränderungen, wie sie gegenwärtig in Deutschland diskutiert werden, nicht aus. Im Gegenteil: Wenn durch die Mehrarbeit die Arbeitsplätze sicherer werden, wird dies eine höhere Konsumquote begünstigen. Denn die schwache Inlandsnachfrage ist nicht Folge zu geringer verfügbarer Einkommen, sondern Ergebnis einer tief gehenden Verunsicherung der Verbraucher.
Der Angstfaktor
Bundespräsident Köhler hatte schon Recht, als er davon sprach, die Deutschen klammerten sich zu sehr an dem fest, was sie haben, und sie lebten zu sehr in der Angst zu scheitern. Zu lange haben die Tarifparteien ihr Kartell genutzt, um Arbeitsplatzbesitzern noch höhere Einkommen zu verschaffen. Dabei haben sie Arbeitssuchende mit geringerer Arbeitsproduktivität durch hohe Mindestlöhne ausgegrenzt. Doch die Sorge der Arbeitsplatzbesitzer ist gestiegen, selbst zu den Ausgegrenzten zu gehören. Deshalb ist die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche bzw. die Vereinbarung unbezahlter Mehrarbeit dort, wo Arbeitsplätze auf dem Spiel stehen, nicht nur ökonomisch geboten. Sie kann die Menschen von dem lähmenden Gefühl befreien, den Folgen der Globalisierung hilflos und ohne eigene Handlungsmöglichkeit ausgeliefert zu sein.