Mit der Inflation ist ein alter Begriff zurückgekehrt: Lohn-Preis-Spirale. Vor 40 Jahren trieben die Gewerkschaften sie kräftig an. Heute eilt ihnen der Staat voraus – und nicht nur er. Wer ist noch beteiligt?
Die IG Metall hatte in ihren Branchen gerade erst ein Lohnplus von 8,5 Prozent durchgesetzt. Aber in den Belegschaften erntete sie damit nicht etwa Lob für einen guten Tarifabschluss - es herrschte miese Stimmung. Auf einer Versammlung von 1000 IG-Metall-Funktionären in der Kölner Flora brach diese Anfang 1973 dann auch in deren Reihen durch. Der Tarifabschluss sei „völlig unzureichend angesichts der galoppierenden Inflation“. So fasst ein Rückblick der „Metallzeitung“ die damalige Diskussionslage zusammen.
Die IG Metall steckte in einer Zwickmühle: Der Unmut in den Belegschaften hatte zwei Ursachen. Neben der Inflation trug eine neue Proteststimmung in der stark gewachsenen Gruppe sogenannter Gastarbeiter dazu bei – die sich mit ihren Interessen weder von der Gewerkschaft noch von sonst wem vertreten sahen. Und so kam eine Welle „wilder Streiks“ in Gang. Trotz tariflicher Friedenspflicht und ohne aktives Zutun der IG Metall probten Beschäftigte den Aufstand.
Was hat das mit heute zu tun? Die aktuellen Inflationsraten haben ungute Erinnerungen geweckt – an die Zeit anhaltend hoher Geldentwertung bei stark erhöhten Energiepreisen. Und so kehrte auch ein Begriff mit schaurigem Unterton zurück: Lohn-Preis-Spirale. Er steht für das, was schiefgehen kann, wenn Gewerkschaften in solchen Zeiten offensiv auftreten; falls sie mit aller Macht versuchen, die Folgen der Teuerung durch umso höhere Lohnabschlüsse für ihre Leute zu bekämpfen. Es setzt leicht ein sich selbst verstärkendes Wechselspiel der Geldentwertung in Gang.
Eine Kettenreaktion
In den Kölner Ford-Werken erreichte der Konflikt am 24. August 1973 den ersten Höhepunkt, nachdem Ford 300 Türken entlassen hatte, die nicht pünktlich aus dem Heimaturlaub zurückgekehrt waren. „12.000 Arbeiter besetzten die Werkstore und wählten eigene Streikleitungen“, so der Bericht. „Ford stellte die Produktion ein, schickte Arbeiter nach Hause.“ Vier Tage später erzielte der Betriebsrat ein Verhandlungsergebnis mit der Firmenleitung: „Bezahlung der Streiktage, 280 DM Teuerungszulage, Rücknahme von Entlassungen bei Vorlage von Attesten.“
Eine Lösung der Probleme war das aber nicht. Die große Ölkrise, verursacht durch einen Lieferstopp der Erdöl exportierenden Länder, stand noch bevor. Sie trieb die Inflationsrate 1973 auf 7,1 Prozent im Jahresschnitt. Und so kam es, dass die Gewerkschaften 1974 in den nächsten regulären Lohnrunden erst richtig zulangten, auch um die eigenen Reihen wieder zu schließen. Die ÖTV erstritt im öffentlichen Dienst ein Plus von 11 Prozent. Die IG Metall schaffte gar 11,6 Prozent. Höhere Löhne sind aber auch höhere Kosten für die Betriebe. Doch die waren durch das verknappte Öl schon stark belastet und in der Produktion gebremst. Die von den Lohnabschlüssen befeuerte Konsumnachfrage heizte daher nicht in erster Linie die
Produktion, sondern weitere Preiserhöhungen an. Es sollte bis 1976 dauern, bis die Inflation erstmals wieder unter 5 Prozent fiel – nicht zuletzt weil Massenentlassungen die Konsumlaune wie auch die Kostenlast der Unternehmen dämpften.
Wer zahlt für die Krise?
Hagen Lesch, Tarifforscher am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), erklärt es so: Trifft ein externer Preisschock die Volkswirtschaft, muss also zum Beispiel mehr für Öl oder Gas an ausländische Lieferanten gezahlt werden, sinkt das inländische Wohlstandsniveau. „Verlangen die Gewerkschaften in ihren Tarifrunden dann um jeden Preis den Teuerungsausgleich, ist das faktisch ein gesellschaftlicher Verteilungskampf darum, wer die Einbußen trägt.“ Das erinnert an das Motto, hinter dem sich in der Finanzkrise 2009 Kritiker der Bankenrettung scharten: „Wir zahlen nicht für eure Krise.“
Wo aber stehen wir heute? Die Tarifabschlüsse lagen 2021 im Durchschnitt unter 2 Prozent. Die Effektivlöhne sind zwar um 3,1 Prozent gestiegen, was aber teils mit Corona-Effekten zu tun hat: Es gab weniger Kurzarbeit als im Vorjahr, und schon dies erhöhte das gemessene Lohnniveau. Allerdings war die Inflation mit ebenfalls 3,1 Prozent so stark, dass sie das ganze Plus aufzehrte; und die erhoffte schnelle Normalisierung ist bisher nicht in Sicht.
Anteile in den Gewerkschaften sinkt
Hans-Werner Sinn, früherer Präsident des ifo Instituts, zieht daher Parallelen. „Wir haben das in den siebziger Jahren gesehen“, beschrieb er jüngst das Lagebild – vom ersten Preisschub bis zur Reaktion der Tarifpolitik habe es ein Jahr gedauert. „Dann aber haben die Gewerkschaften zugelangt für ihre Leute.“ Was ja völlig verständlich sei, wenn deren Lebenshaltungskosten steigen. Aber genau damit entstehe aus einem ersten „Huckel“ im Inflationsverlauf der zweite, aus zunächst vorübergehenden Preisschüben (einst Ölpreisschock, heute Lieferkettenprobleme) werde eine Serie. Und die heikle Phase der Lohnpolitik beginnt nach dieser Analyse im Herbst: Dann laufen wieder große Tarifrunden in der Metallindustrie und im öffentlichen Dienst, die ersten, seit die Inflation nicht mehr als Episode gilt. Wieder läge es an IG Metall und Verdi, ob sich die Spirale dreht.
Vielleicht ist es aber auch komplizierter – jedenfalls in anderer Weise kompliziert als damals: Einst waren fast 40 Prozent der Beschäftigten in Gewerkschaften organisiert, heute kaum noch 15 Prozent. Ebenso ist der Anteil der Betriebe, für die Tarifverträge gelten, gesunken. Selbst wenn Verdi und IG Metall sehr hohe Abschlüsse durchsetzen, haben sie weniger Breitenwirkung. Christoph Schmidt, Präsident des RWI-Leibniz-Instituts, urteilt daher anders: Vergleiche mit den 1970er-Jahren seien kaum angebracht. „Die Gefahr einer durch Gewerkschaften angetriebenen ,Lohn-Preis-Spirale‘ ist heute deutlich geringer.
Minimaler Einfluss durch Mindestlohn
Es gibt aber auch Gegenkräfte. Etwa den Staat – der gerade jetzt als harter Lohntreiber auftritt, um für die Gewerkschaften verlorenes Terrain zurückzuerobern. Dazu gehört die Erhöhung des Mindestlohns durch ein Sondergesetz, das über die Beschlüsse der Mindestlohnkommission hinausgeht. 12 Euro von Oktober an, wie von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) geplant – das ist eine Erhöhung um 25 Prozent binnen Jahresfrist. Zugleich gibt es neue Vorgaben in der Altenpflege, sie erhöhen die Lohnuntergrenzen dort um 17 bis 48 Prozent. Und die Regierung will Betriebe in weiteren Branchen per Gesetz an Tarifverträge binden, wo dies Gewerkschaften nicht mehr gelingt.
Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung rechnete jüngst vor, dass die Inflationseffekte dieser Politik unbedeutend seien. Der höhere Mindestlohn, der laut Heil 6,2 Millionen Jobs erfasst, hebe das gesamtwirtschaftliche Lohnniveau nur um 0,6 Prozent – und die Inflation um 0,25 Prozentpunkte. Die Studie vergleicht die 12 Euro freilich mit der von Juli an gültigen Mindestlohnhöhe 10,45 Euro, nicht mit dem Stand vor einem Jahr. Und sie klärt nicht, wie gesetzliche Erhöhungen um zweistellige Prozentwerte die Lohnforderungen der Gewerkschaften befeuern.
Arbeitskräftemangel treibt Spirale an
Ganz so entspannt sieht RWI-Chef Schmidt den Mindestlohn nicht, doch seine Hauptsorge gilt den Beschäftigungsfolgen, die sich mindestens „kurzfristig als problematisch erweisen könnten“. Der mächtigste Lohntreiber sei allerdings ein anderer – eine neue, dritte Kraft neben Staat und Gewerkschaften: Arbeitskräfteknappheit. Diese sei „einer der wichtigsten Faktoren, der möglicherweise eine ‚Lohn-Preis-Spirale‘ antreiben könnte“. Und der bevorstehende Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge werde die Knappheit in den kommenden Jahren eher noch verschärfen.
Ansätze dieser Kraft sind sogar schon jetzt im tarifpolitischen Alltag zu besichtigen, ein Blick in den „Tarifticker“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes hilft dabei: „Baumschulen Schleswig-Holstein und Hamburg: Bis zu 12 Prozent mehr Geld“, heißt es da. „Tarifrunde Tischlerhandwerk: 17 Prozent mehr Geld für Beschäftigte in Ostdeutschland“. Oder: „Tarifentgelte im hessischen Gastgewerbe steigen um insgesamt 15 Prozent.“ Alles Meldungen über Tarifabschlüsse aus jüngster Zeit.
Der neue Trend: Wertschätzung
Gesamtwirtschaftlich fällt jeder einzelne zwar kaum ins Gewicht. Außerdem ist zu beachten, dass sich die üppigen Prozente auf Laufzeiten von mehr als 12 Monaten verteilen. Üppig sind sie dennoch – und markieren wohl den neuen Trend: Es gehe um „Wertschätzung für die enormen Belastungen, die hinter uns liegen, aber auch um klare Perspektiven für die Zukunft in der Branche“ , erklärt Gerald Kink, Vorsitzender des hessischen Hotel- und Gaststättenverbandes – der Arbeitgebervertreter also, der die 15 Prozent mit der Gewerkschaft ausgehandelt hat. Und Hans Höfler von der Tarifgemeinschaft des Tischlerhandwerks Ost zu den 17 Prozent: Es bestehe „der beiderseitige Wille, den Anschluss an die üblichen Tarifeinkommen herzustellen und für die Fachkräfte und den Nachwuchs attraktiv und konkurrenzfähig zu bleiben“.
Beide sagen aber auch ganz klar, was das für Kunden bedeutet: Ebenso wie Bahnkunden, sagt Kink, könnten „auch unsere Gäste nicht erwarten, dass sich ein stabiler Beitrag zur Verbesserung der Lebenssituation unserer Mitarbeiter nicht auch flächendeckend in der Kalkulation unserer Angebote widerspiegelt“. Und Höfler: Da dem Lohnanstieg nur geringe Produktivitätsfortschritte gegenüberstünden, werde dieser „zu notwendigen Erhöhungen bei den Stundenverrechnungsätzen und Preisen für Tischlerleistungen führen“. Offenbar bewegen sich ihre Mitgliedsbetriebe in einem Umfeld, in dem ihnen höhere Preise gut durchsetzbar erscheinen.
Die Regierung hat den Hebel in der Hand
In den Gewerkschaften stößt indessen allein schon das Konzept „Lohn-Preis-Spirale“ auf Widerstand – denn es sei einseitig arbeitgeberfreundlich und fast beliebig gegen Lohnforderungen einsetzbar. Das stört selbst Michael Vassiliadis, Chef der Chemiegewerkschaft IG BCE und sicher kein linksrevolutionärer Theoretiker: „Ich sehe keine Lohn-Preis-Spirale“, sagt er lapidar. „Eher haben wir es mit einer Energie-Preis-Spirale zu tun.“
Damit aber greift er den Kern des Konzepts an: Was sind in der Inflation eigentlich die unabänderlichen Fakten – und was Stellschrauben? Am hohen Ölpreis 1973 konnte die Regierung wohl wirklich wenig ändern. Also kam es, neben der Geld- und Fiskalpolitik, besonders auf lohnpolitische Weitsicht der Gewerkschaften an. Heute dagegen hat die Regierung durch die vielen Regulierungen und Abgaben, die Energie verteuern, lauter eigene Hebel in der Hand. Die Verantwortung für Inflation mit dem Begriff Lohn-Preis-Spirale trotzdem auf ihre Lohnpolitik zu schieben – das lassen sich die Gewerkschaften nicht bieten.
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