WirtschaftsWoche, 22. April 2022, Nr. 17, S. 43.
Wer es wollte, der konnte die Inflation kommen sehen: Schon 2020 war klar, dass die weltweiten Lockdowns in Verbindung mit einer überaus lockeren Geldpolitik das Risiko einer erheblichen und für die Stabilität der Gesellschaft gefährlichen Teuerungsrate heraufbeschwören würden.
Und aus dem Risiko wurde schnell Realität: Weltweit unterbrach die Pandemie die Produktionsketten – von den natürlichen Ressourcen bis hin zu den Endprodukten. Bei ersteren brach die Nachfrage ein, bei letzteren das Angebot.
Auf den Nachfrageeinbruch bei den Ressourcen reagierte das Ölkartell OPEC mit einer Drosselung der Produktion. Die 2020 gesunkenen Ölpreise schossen daraufhin 2021 nach oben.
Auf den Angebotseinbruch bei der produzierten Gütern reagierten die Regierungen der westlichen Welt mit groß angelegten Programmen zur Stützung der Nachfrage. Sie steckten ihren Bürgern Unmengen frisch von den Zentralbanken gedrucktes Geld als Ersatz für fehlende Markteinkommen in die Taschen. Wie Manna vom Himmel regneten während der Pandemie allein in der Euro-Zone drei Billionen Euro neuen Geldes hernieder – drei Mal so viel Geld, wie noch vor wenigen Jahren als Schmiermittel für die Ökonomie der Währungsunion genügt hatte.
Doch die Firmen des verarbeitenden Gewerbes konnten mit dem Geld ihrer Kunden wenig anfangen. 80 Prozent klagten über Lieferengpässe, mehr als je zuvor. Die Firmen hamsterten Vorprodukte, um lieferfähig zu bleiben, aber das vergrößerte die Engpässe nur noch mehr.
Eine heftige Inflation setzte ein, die Monat für Monat an Fahrt gewann und mittlerweile den historischen Rahmen der Nachkriegszeit sprengt.
Umso befremdlicher mutet das Verhalten der Europäischen Zentralbank (EZB) an. Obwohl die US-Notenbank Fed bereits 2021 einen Kurswechsel zu einer restriktiveren Geldpolitik einleitete, blieb die EZB störrisch und verteidigte ihre Politik der Null- und Negativzinsen.
Damit erzeugte sie eine Kapitalflucht nach Amerika und eine Abwertung des Euro. Das forcierte den Anstieg der Importpreise inklusive der Preise der importierten Energie in der Euro-Zone.
Dennoch ließ die EZB ihre Prognostiker für 2023 und 2024 Inflationsraten von unter zwei Prozent vorhersagen. Mit einer Chuzpe, die fassungslos macht, vertrat die EZB den Standpunkt, mittelfristig sei die Inflation noch immer zu gering. Auch verstieg sie sich zu der Behauptung, sie habe auf die Energiepreise keinen Einfluss.
Im November 2021 lag die Inflationsrate in der Euro-Zone bereits bei 4,9 Prozent (Deutschland: 5,2 Prozent) und damit weit oberhalb der von der EZB angestrebten Grenze von zwei Prozent. Trotzdem befand EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel am Ende des Monats: „Prognosen gehen davon aus, dass im November der Höhepunkt der Inflation erreicht ist und diese dann wieder unter zwei Prozent fallen
wird.“ EZB-Präsidentin Lagarde sekundier te wenige Tage später: „I see an inflation profile that looks like a hump ... and a hump eventually declines.“
Tatsächlich ist die Inflationsrate seit November 2021 immer weiter angestiegen und hat im März das Niveau von 7,5 Prozent in der Euro-Zone und von 7,3 Prozent in Deutschland erreicht.
Erzeugerpreise im Höhenflug
Die neue Inflation hat mit dem Krieg in der Ukraine wenig bis nichts zu tun – sie wurde schon vorher von den dramatisch steigenden Erzeugerpreisen angetrieben. Diese erfassen die vielen Zwischenstufen der Produktion, die ein Produkt durchlaufen muss, bevor es beim Endkunden ankommt. Die europäische Statistikbehörde Eurostat meldete im Februar 2022 einen Anstieg der Erzeugerpreise in der EuroZone von 31,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat. In Spanien waren es sogar 35,7 Prozent, in Italien 41,8 Prozent.
Für Deutschland ermittelte das Statistische Bundesamt im Februar eine Inflationsrate bei den Erzeugerpreisen von 25,9 Prozent. Das ist der höchste Wert seit Gründung der Bundesrepublik. Er liegt um mehr als zehn Prozentpunkte über den Spitzenwerten während der großen Ölkrisen vor einem halben Jahrhundert.
Steigende Erzeugerpreise führen normalerweise mit einer gewissen Verzögerung, wenn auch abgeschwächt, zu höheren Endproduktpreisen. Es dauert seine Zeit, bis eine Firma ihre Vorprodukte weiterverarbeitet hat, erst dann überwälzt sie die höheren Einkaufspreise auf ihre Kunden. In Deutschland dauerte dieser Prozess in der Vergangenheit im Schnitt drei Monate und schlug sich zu gut einem Drittel in der Inflation der Konsumentenpreise nieder. So gesehen steckt aktuell in Deutschland noch ein inflationärer Impuls bei den Konsumentenpreisen von etwa neun Prozent in der Pipeline.
Die EZB hat sich der neuen Realität bislang aus Gründen, über die man nur spekulieren kann, trotzig verweigert. Mit ihren fadenscheinigen Stellungnahmen riskiert sie nicht nur ihre Glaubwürdigkeit. Sie erweckt sogar den Eindruck, die Kontrolle über das Preisniveau verloren zu haben.
Nachzulesen auf www.wiwo.de.