Gefährlich und unrealistisch sei Merkels Strategie in der Flüchtlingspolitik, sagt Ökonom Hans-Werner Sinn. Griechenland? Ein gescheiterter Staat. Und eine Partnerschaft mit der Türkei? Desaströs.
Star-Ökonom Hans-Werner Sinn hält die Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Flüchtlingskrise für unrealistisch und gefährlich. Bei der Bewältigung der Flüchtlingswanderung auf die Kooperation mit der Türkei und Griechenland zu hoffen, werde nicht funktionieren.
"Die Kanzlerin setzt auf die Türkei. Das soll sie mal probieren", sagte Sinn während einer Vorlesung am Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo) in München. "Wenn man den Türken den Schlüssel in die Hand gibt für die Tür, die nach Deutschland führt, dann macht man sich abhängig von der Türkei", warnte der scheidende Ifo-Präsident.
Die Türkei wolle immer noch langfristig ein Mitglied der Europäischen Union werden und könne ihre exponierte Stellung auf den Fluchtrouten ausnutzen, um Druck auf Deutschland und Europa auszuüben. "Immer wenn Deutschland nicht artig ist, lassen die Türken ein paar Flüchtlinge durch. Was für eine schreckliche Perspektive. Das ist keine überzeugende Politik", sagte der Ökonom.
Auch auf Griechenland zu setzen sei illusorisch. Das Land werde es nicht schaffen, seine Grenzen zum Mittelmeer, über das die Flüchtlinge in das Schengenland kommen, zu schließen. "Machen Sie mal 1000 Inseln dicht; das geht physisch gar nicht", sagte Sinn. "Griechenland ist außerdem ein ,failed state', das funktioniert überhaupt nicht."
Politik muss Ausnahmen vom Mindestlohn zulassen
Stattdessen sei es nötig, den zentraleuropäischen Schengenraum stärker zu kontrollieren, insbesondere die ungarisch-slowenische Grenze. Dort fordert Sinn Transitlager, in denen entschieden werden solle, ob die Neuankömmlinge nach europäischem Asylrecht asylberechtigt sind. Diese Flüchtlinge sollten von dort nach einem Quotensystem unter den Schengenländern verteilt werden. Auch in Italien, das viele Flüchtlinge über das Mittelmeer erreichen, sollte es solche Transitlager geben.
Sinn hält die Wahrscheinlichkeit, dass seine Vorschläge umgesetzt werden, allerdings selbst für gering. "Kommt das? Ich weiß es nicht, aber nächste Woche wissen wir mehr", sagte Sinn in Anspielung auf den EU-Türkei-Gipfel am Montag in Brüssel. "Aber ich glaube nicht, weil die osteuropäischen Länder nicht mitmachen wollen. Die Willkommenskultur ist immer noch sehr begrenzt auf Deutschland und wenige andere Länder."
Für den Umgang mit den Neuankömmlingen, die bereits in Deutschland sind, sei entscheidend, dass sie sofort in den Arbeitsmarkt integriert werden. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass man die jungen Leute in den Lagern lässt und Däumchen drehen lässt", sagte Sinn. "Die müssen sofort integriert werden, in irgendwelche Jobs." Die Neuankömmlinge lernten viel besser Deutsch, wenn sie in einer praktischen Tätigkeit von deutschsprachigen Kollegen umgeben seien, als in einer Schule.
Um die Migranten möglichst schnell und in großer Zahl integrieren zu können, sei es nötig, Ausnahmen vom Mindestlohn zuzulassen, sagte Sinn. Er könne sich beispielsweise vorstellen, dass Migranten und deutsche Arbeitnehmer, die neu auf den Arbeitsmarkt kommen, für eine Karenzzeit vom Mindestlohn ausgenommen seine.
Sozialhilfe wird durch Ein-Euro-Jobs zum Arbeitslohn
Sinn begrüßte auch den Vorschlag von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), die Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge ins Gespräch gebracht hatte. "Das ist ein guter Vorschlag", sagte der Ökonom. "Man verlangt quasi eine Gegenleistung für die Sozialhilfe. Die Sozialhilfe wird so zum Arbeitslohn.
Nötig sei außerdem, die Entwicklungshilfe vor Ort zu verstärken, um die wirtschaftliche Lage der Menschen in den Mittelmeeranrainerstaaten zu verbessern. Deutschland habe einen großen Fehler gemacht, als man die vom damaligen französischen Premier Nicolas Sarkozy vorgeschlagene Mittelmeerunion vor zehn Jahren abgeblockt habe. Die Union hätte dabei helfen können, die Situation in den Herkunftsländern vieler Wirtschaftsflüchtlinge zu verbessern.
Ganz entscheidend sei, den Handel mit den betroffenen Ländern weiter zu liberalisieren. Europa dürfe insbesondere die Agrarmärkte nicht weiter abschotten, weil gerade in der Landwirtschaft viele der betroffenen Länder besonders wettbewerbsfähig seien. "Das soll aber nicht heißen, dass wir unsere Grenzen offen lassen und so lange die Entwicklungshilfe verstärken, bis keiner mehr kommt."
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