Die Welt, 03.03.2016, S. 10.
ifo-Chef Hans-Werner Sinn fordert eine Kontrolle der EU-Außengrenzen. Zudem fürchtet der Ökonom, dass die Immobilienblase hierzulande platzt.
Nach einem Vierteljahrhundert legt Hans-Werner Sinn Ende des Monats sein Amt als Ifo-Präsident nieder. Kein anderer Ökonom hat die wirtschaftlichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte in Deutschland so entscheidend geprägt wie er.
Ob Wiedervereinigung, Sozialstaatsdebatte, Klimapolitik oder Finanzkrise – stets bezog der Wissenschaftler klare, nicht immer mehrheitsfähige Positionen. Mit der Flüchtlingspolitik und der ungelösten Euro-Krise sieht Ökonom Sinn auf Deutschland gewaltige Probleme zukommen.
Von Tobias Kaiser und Dorothea Siems
Die Welt: Die Europäische Union droht an der Flüchtlingskrise zu scheitern. Auch in Deutschland wird der Ruf nach Grenzschließungen immer lauter. Die Wirtschaft und Ökonomen warnen vor horrenden Kosten. Zu Recht?
Hans-Werner Sinn: Wieso die EU scheitern sollte, wenn man die Grenzen kontrolliert, ist mir schleierhaft. Die EU gab es auch schon ohne Schengen, und einige EU-Länder machen bei Schengen sowieso nicht mit. Wenn man genug Zöllner parallel arbeiten lässt, gibt es keine Staus. Die Zöllner sind billig. Wir reden hier über einen winzigen Bruchteil dessen, was die Flüchtlinge kosten.
Machen Sie es sich damit nicht ein wenig einfach? Würden geschlossene Grenzen nicht insgesamt den Handel in Europa belasten?
Diese Debatte ist ziemlich verquer. Grenzkontrollen heißen doch nicht, dass man die Grenzen schließt. Nur entscheidet der deutsche Staat, wen er hereinlässt. Ich bin dafür, erst einmal die Schengengrenze von Slowenien und Italien gemeinschaftlich zu kontrollieren und die Flüchtlinge dort einem einheitlichen Asylverfahren zu unterwerfen. Wenn das nicht gelingt, dann muss Deutschland eigene deutsche Kontrollen vornehmen. Jedes Fabrikgelände ist durch Schranken und Zäune geschützt. Auch Staaten müssen sich vor einer unberechtigten Zuwanderung schützen.
Das klingt so, als halten Sie Schengen für einen Fehler.
Ein Fehler ist, dass kein gemeinsames Asylrecht mit einem Quotensystem vereinbart wurde und die Grenzländer Schengen nicht ernst nehmen. Sie kommen ihrer Kontrollfunktion nicht nach, lassen alle Flüchtlinge rein und winken sie dann durch. Daran wird sich nichts ändern, solange Deutschland jeden reinlässt, der kommen will. Schon um die Verhandlungsbereitschaft der Grenzländer zu stärken, sollten wir damit drohen, die eigenen Grenzen zu kontrollieren. Das Willkommenssignal in die weite Welt zu senden war ein schwerer politischer Fehler.
Sie würden also akzeptieren, dass es notfalls innerhalb des Schengen-Raums wieder Grenzen gibt.
Ja. Wenn es keine funktionierenden Grenzen nach außen gibt, ist das die zweitbeste Lösung. Denn die schlechteste aller Lösungen ist es, weder Grenzen nach Innen noch nach Außen zu haben.
So wie im Moment.
Ja. Es ist nicht akzeptabel, dass Hunderttausende nach Deutschland kommen, von denen man gar nicht weiß, wer sie sind. Dass die Kanzlerin sagt, sie könne die Grenzen nicht kontrollieren, hat mich verwundert. Das ist ihre Aufgabe als Kanzlerin. Das deutsche Staatsgebiet zu schützen und das Eigentum der Deutschen an den öffentlichen Gütern hierzulande zu sichern, darauf hat sie einen Eid geleistet, und dazu ist sie verpflichtet.
Wie lässt sich das Dilemma lösen, ohne dass Flüchtlinge irgendwo in den Grenzgebieten stranden?
Wir können diese Willkommenskultur nicht fortsetzen, indem wir sagen, Bürgerkriegsflüchtlinge, egal woher, nehmen wir auf. Dazu ist Afrika mit seinen 1,1 Milliarden Menschen zu groß, und dazu gibt es dort zu viele Bürgerkriege. Denken Sie nur an den Bürgerkrieg in Nigeria, wo 170 Millionen Menschen leben. Das deutsche Asylrecht gewährt Schutz vor politischer Verfolgung durch einen Staat und nicht etwa Schutz vor den Parteien eines Bürgerkriegs. Und die Genfer Flüchtlingskonvention, die großzügiger ist und auch Bürgerkriegsflüchtlingen Schutz verspricht, gilt für die jeweiligen Nachbarländer. Die sind zunächst einmal zuständig, nicht Deutschland. Das deutsche Asylgesetz sagt klipp und klar, dass Flüchtlinge, die über sichere Drittländer nach Deutschland kommen, zurückzuweisen sind, weil sie hier kein Asylrecht haben. Die Bundesregierung hat diese Regelung unter Bezug auf eine dort vorgesehene Notstandsregelung außer Kraft gesetzt. Sie kann sich aber nicht dauerhaft auf den Notstand berufen.
Diese Einschränkungen würden praktisch alle Asylsuchenden betreffen. Mit solchen Forderungen werden Sie ganz schnell als kalter herzloser Ökonom abgestempelt.
Wie weit ist dieses Land gekommen, wenn der Hinweis auf die Rechtslage schon kritikwürdig ist. Jeden, der herkommen will, kommen zu lassen, ist nicht nur rechtswidrig, sondern auch nicht wirklich humanitär. Schauen Sie nach Spanien. Spanien hatte in den vergangenen Jahren auch eine Flüchtlingswelle. Erinnern Sie sich doch an die Bilder von den Kanarischen Inseln; von gekenterten Schlauchbooten und Toten, die vor Touristen in ihren Badehosen lagen. Heute sucht die spanische Marine nach Booten, gewährt den Passagieren Schutz und bringt sie dann zurück nach Afrika. Die spanische Polizei verfolgt gleichzeitig in Afrika Schlepperbanden. Wegen dieser scheinbar harten Politik kommt keiner mehr, und deshalb stirbt kaum noch jemand auf der Passage nach Spanien. Im vergangenen Jahr gab es dort 106 Tote. Während dessen zählte man vor Italien und Malta 2892 Tote und vor Griechenland 805 Tote. Die italienisch-griechische Durchwinkerei verleitet die Menschen dazu, Schlepper zu bezahlen und sich in überfüllte Schlauchboote zu wagen, von denen ein gewisser Teil untergeht. Das ist eine unbeabsichtigte Konsequenz der Willkommenskultur, an der man nicht vorbeisehen darf.
Sie machen seit 25 Jahren Politikberatung: Ihnen müsste doch klar sein, dass Sie für solche Aussagen heftige Kritik ernten werden. Sind Sie unbelehrbar?
Wer sich daran stört, dass ich empirische und rechtliche Fakten nenne, ist selbst schuld. So jemanden würde ich als Ideologen bezeichnen. Ich werde dafür bezahlt, dass ich die Wahrheit sage. Das ist mein Anspruch, und mir ist es egal, ob das Leuten gefällt oder nicht. Das ist doch das Problem an vielen Debatten hierzulande, dass alle überlegen, wem was gefällt und was noch politisch korrekt ist. Was wahr ist, ist wahr, und das muss man so sagen, sonst macht doch die ganze Wissenschaft keinen Sinn.
Wie viel Sinn macht denn die verkehrte Wirtschaftswelt in der wir gegenwärtig leben? Die Negativzinsen belohnen Konsum und bestrafen Sparer. Was ist mit unserem Geld los?
Die Europäische Zentralbank ist dabei, ihr letztes Pulver zu verschießen. Die Wirtschaft in Südeuropa kommt nicht in Schwung, und die Staaten dort sind überschuldet. Die EZB reagiert darauf, indem sie immer günstigere Kredite zur Verfügung stellt und jetzt sogar die Gläubiger im Norden zwingt, den Schuldnern im Süden die Zinsen zu zahlen.
Dadurch wird auf den Kopf gestellt, was im Wirtschaftsleben normalerweise gilt. Das muss doch Folgen haben.
Es hat vor allem für Deutschland erhebliche Konsequenzen, weil Deutschland der zweitgrößte Nettogläubiger der Welt ist. Für unser Auslandsvermögen erhalten wir immer weniger Zinsen, und vielleicht müssen wir dafür in Bälde sogar selbst Zinsen zahlen. Die Schuldnerländer werden auf diese Weise von ganz alleine entschuldet, und vielleicht werden die Schulden auch noch zusätzlich durch eine Inflation reduziert, wie sie von der EZB offen angestrebt wird. Die Deutschen denken, dass sie später, wenn sie in Rente gehen, das Geld zurückbekommen, das sie ans Ausland verliehen haben. Aber die Schuldner haben bei der EZB das Sagen und versuchen, ihre Schulden mit deren Hilfe erträglicher zu machen, wenn nicht gar zu verringern.
Wie gefährlich ist denn dieser Zustand für die Volkswirtschaft?
Diese Politik verteilt gewaltig um: Im Vergleich zum Jahr 2007, dem letzten Jahr vor der Krise, verliert Deutschland, Staat und Private zusammen, derzeit wegen der niedrigen Zinsen pro Jahr etwa 50 Milliarden Euro, wobei nicht klar ist, was davon durch die EZB und was durch die Krise verursacht ist. Die Null- und Negativzinspolitik führt außerdem dazu, dass der Wert von Immobilien und Aktien künstlich aufgeblasen wird, weil die Anleger aus den reinen Finanzanlagen in reale Objekte fliehen.
Mit welchen Folgen?
Wir bauen in Deutschland allmählich eine Immobilienblase auf. Seit 2010 sind die Immobilienpreise in den Großstädten um 50 Prozent gestiegen und in den Städten insgesamt um etwa 35 Prozent. Das droht sich zu einer Blase zu entwickeln. Es wäre höchste Zeit, jetzt schon mal die Luft rauszulassen. Wir bräuchten dringend in Deutschland wieder normale Zinsen, um den Übertreibungen am Immobilienmarkt eine Grenze zu setzen. Doch dem steht das Ziel der EZB entgegen, Südeuropa zu retten, indem man die Schuldner durch Null- und Negativzinsen entlastet. Die EZB greift mit ihrer extrem expansiven Geldpolitik nach dem letzten Strohhalm. Die gefährliche Entwicklung in Deutschland nimmt sie in Kauf.
Was wird passieren?
Jede Blase platzt. Meistens passiert das nach etwa ein bis zwei Jahrzehnten. Die ersten zehn Jahre, von denen wir nun fünf hinter uns haben, sind in der Regel ganz erbaulich. Aber danach begibt man sich in sehr gefährliches Territorium. Wenn eine Blase platzt, wird es schrecklich. Es gibt Konkurse, die Arbeitslosigkeit steigt, und Vermögen wird vernichtet. Das ist der Kater, der nach der großen Party unweigerlich folgt. Wir haben das in Japan nach 1990, in den USA und Irland nach 2006 und in Südeuropa nach 2008 gesehen. Vor dieser Gefahr muss man heute eindringlich warnen und eine andere Politik der EZB verlangen.
Werden wir also wieder eine Finanzkrise bekommen oder stecken wir immer noch in der gleichen?
Die Eurokrise ist nicht bewältigt, sondern wurde nur unterdrückt und flammt immer wieder auf. Neben Griechenland, das pleite ist, haben wir aktuell ein weiteres großes Problem: die italienischen Banken, die auf einem riesigen Bestand an faulen Krediten sitzen.
Was muss geschehen, um die Krise endgültig zu beenden?
Es wäre richtig, Pleiten in einem möglichst frühen Stadium zuzulassen. Das gilt sowohl für Länder als auch für Finanzinstitute. Je früher sie kommen, desto kleiner sind die Folgewirkungen. Die Gläubiger müssten dann Verluste hinnehmen. Nach so einem klaren Schnitt kann sehr schnell die Erholung einsetzen. Wenn dagegen die Konkurse verschleppt werden, profitieren zwar die Gläubiger, doch es entstehen chronische Krankheiten, die zum Schluss nicht mehr heilbar sind. 2010 hätte man Griechenland pleite gehen lassen sollen. Ein offener Konkurs wäre besser gewesen als dieses fortgesetzte Siechtum. Im vergangenen Juli hat der Europäische Rettungsschirm EFSF die Pleite Griechenlands offiziell festgestellt. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel fürchtete den klaren Schnitt und hat stattdessen ein drittes Rettungspaket durchgesetzt. Weil sie den Ökonomen misstraut und bei schwerwiegenden ökonomischen Entscheidungen kein sicheres Gespür hat, macht sie weiter wie bisher. Das permanente Herauspauken Griechenlands auf Kosten der Steuerzahler ist nicht nur wirtschaftlich unsinnig, sondern steht auch im Widerspruch zu dem Vertrag von Maastricht.
Wird man Griechenland seine Schulden erlassen?
Natürlich, es wird wieder Umschuldungen zulasten der hiesigen Steuerzahler geben. Und so wird es immer weiter gehen. Denn die Machthaber gestehen ungerne ihre Fehler ein. Die meisten klammern sich an die alten Positionen. Bundesfinanzminister Schäuble gehört zu den wenigen, die Fehler zugeben. Er wollte Griechenland im vergangenen Sommer pleite gehen lassen. Die Märkte hätte das nicht erschüttert, die hatten das längst eingepreist.
Wird der Euro langfristig zu retten sein?
Ich weiß es nicht. Die Spannungen sind sehr groß, und sie werden viel zu langsam abgebaut. Bisher hat noch keine Währungsunion ohne die Gründung eines gemeinsamen Staates überlebt. Nur eine Währungsunion, die mit einer politischen Union einhergeht, also mit einer Staatengründung, hat Bestand.
Ist dieses Ziel für Europa nicht erreichbar?
Es wäre wünschenswert, diesen Weg zu gehen. Doch weil der Euro vor der politischen Union eingeführt wurde, ist das Erreichen der politischen Union ungeheuer erschwert, wenn nicht gar unmöglich geworden. Die Streitigkeiten, die zwischen den EU-Mitgliedern herrschen, zeigen das. Das Klima wird immer giftiger. Der Grund sind die strukturellen wirtschaftlichen Probleme in Südeuropa und Frankreich, die direkt ursächlich auf den Euro zurückzuführen sind.
Braucht die EU ein neues Projekt?
Ja, wenn man eine wirkliche Integration will, dann muss man das über eine Sicherheitspartnerschaft machen. Dafür muss man die Armeen zusammenlegen. Wir haben 25 nationale Armeen für 28 Länder. Eine Verteidigungsunion könnte geeignet sein, der europäischen Idee wieder neue Kraft zu verleihen.
Also ist „weniger Europa“ die falsche Antwort in der jetzigen Krise?
Auf ökonomischen Feldern sollten wir in der Tat wieder mehr auf Abstand voneinander gehen. Denn die vor allem von Frankreich und Italien forcierten Ideen für eine gemeinsame Einlagenversicherung, eine europäische Arbeitslosenversicherung oder einen EU-Finanzminister wären allesamt kontraproduktiv. Wenn wir Deutschen unsere Geldbörse auf den Tisch legen, haben wir später gar keine Verhandlungsmasse mehr, um das Ziel einer politischen Union zu erreichen, die von den Franzosen nicht gewünscht wird. Wenn wir die fiskalische Union im Sinne gemeinsamer Kassen jetzt schon akzeptieren, bekommen wir die politische Integration nie.
Wären die Briten schlau, wenn sie demnächst für einen EU-Ausstieg votierten?
Ökonomisch wäre der Brexit für die Briten, insbesondere für den Finanzplatz London, nachteilig. Doch Premierminister Cameron hat mit seiner Kritik an der EU in vielen Punkten Recht. Es lässt sich kein Sozialstaat bei freier Wanderung und Aufnahme der Migranten in den Sozialstaat des Ziellandes aufrechterhalten. Deshalb fordert er zu Recht eine Karenzzeit von vier Jahren, bevor EU-Bürger in Großbritannien Sozialleistungen beanspruchen können. Merkel hätte sich in dieser Frage viel offensiver an die Seite Camerons stellen sollen. Denn auch Deutschland könnte solche Regelungen gebrauchen. Wir können nur hoffen, dass die Briten gegen den Brexit stimmen, denn wir brauchen sie dringend als Gegengewicht zu den allzu staatsgläubigen Franzosen.
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