WirtschaftsWoche, 18.03.2016, S. 36.
Die erneuten Zinssenkungen der EZB sind ein Subventionsprogramm für Südeuropa. Staaten wie Deutschland, die hohes Auslandsvermögen haben, kostet das Milliarden.
Seit Jahren kämpfen die Europäische Zentralbank (EZB) und die Staatengemeinschaft mit immer mehr Hilfskrediten gegen die Krise in Südeuropa. Doch wirkliche Erfolge wollen sich nicht zeigen. Die Länder des Südens kommen nicht vom Fleck. Selbst Frankreich, dessen Banken und Wirtschaft eng mit den Krisenländern verflochten sind, bleibt im Krisenmodus. Seine Industrieproduktion verharrt seit 2013 auf einem Stand rund 15 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Italien, Spanien und Griechenland liegen sogar um ein Viertel darunter.
Der Grund für diese Katastrophe ist einfach auszumachen. Er liegt darin, dass die Zeit, die die EZB den südeuropäischen Ländern für Reformen gab, Zeit zum Nichtstun war. Je mehr öffentliche Hilfen die mediterranen Krisenländer erhielten, desto leichter gelang es ihnen, schmerzliche Reformen zu vermeiden, die über relative Lohn- und Preissenkungen, wenn nicht gar eine offene Deflation, eine langfristige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ermöglicht hätten. Die Drogensüchtigen kamen von der Droge des billigen Kredits nicht los, weil ihnen erlaubt wurde, gegen die Schmerzen neue Drogen einzunehmen. So kann der Entzug nicht funktionieren.
Diese Erkenntnis ist bei der EZB leider noch nicht gereift. Wie sonst ist es zu erklären, dass sie nach dem Zusammenbruch der privaten Finanzierung immer mehr Finanzmittel aus der Druckerpresse bereitstellt? Jetzt will die Notenbank nicht nur ihr Vermögenskaufprogramm QE ausweiten, den Strafzins für Einlagen der Banken bei den Notenbanken von 0,3 Prozent auf 0,4 Prozent erhöhen und den Hauptrefinanzierungssatz für unbegrenzte Neukredite auf null senken. Was viel dramatischer ist: Sie hat vier neue langfristige Kredittranchen mit frisch gedrucktem Geld, sogenannte TLTROs, angekündigt, die sie Banken, wenn sie diese weiterreichen, selbst mit bis zu 0,4 Prozent verzinsen wird. Nicht der Schuldner zahlt also Zinsen an den Gläubiger. Sondern der Gläubiger zahlt Zinsen an den Schuldner. Verkehrte Welt!
Wäre der Gläubiger nicht der Steuerzahler, der Anspruch auf die EZB-Gewinnausschüttungen hat, könnte man das lockerer sehen. So aber fragt man sich: Was berechtigt die EZB, Zinssubventionen zu zahlen und die Zinsen so weit zu drücken, dass Sparern die Erträge wegbrechen, Unternehmen unter der Last wachsender Pensionsrückstellungen ächzen und Stiftungen ihr Geschäft aufgeben müssen, weil sie nur die Zinsen, nicht aber das Kapital für den Stiftungszweck verwenden dürfen?
Vermutlich wird die EZB nun wieder ihre Neusprech-Abteilung aktivieren, um schöne Vokabeln zu erfinden, die eine semantische Anmutung von Geldpolitik vermitteln. Sie kann auch darauf setzen, dass der Europäische Gerichtshof weiter die Augen vor der Wirklichkeit verschließt. Dennoch gehen die jüngsten Maßnahmen weit über die Grenze des Vernünftigen hinaus. Es handelt sich um den dreisten Versuch jener Mitglieder des EZB-Rats, die netto im Ausland verschuldete Länder vertreten, diesen Staaten durch sinkende oder gar negative Zinsen einen Teil der Schuldenlast zu nehmen.
Das trifft vor allem Deutschland, denn wir haben dank riesiger Exportüberschüsse das zweitgrößte Nettoauslandsvermögen aller Länder der Erde aufgebaut. 2015, also vor den neuerlichen Zinssenkungen, haben die niedrigen Zinsen im Vergleich zu 2007 Deutschland in seiner Gesamtheit - staatliche und private Instanzen zusammengenommen - etwa 89 Milliarden Euro gekostet. In der Summe der Jahre seit 2008 dürfte Deutschland als Ganzes 327 Milliarden Euro verloren haben. Umgekehrt haben die sechs Krisenländer der Euro-Zone (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland, Zypern), die Ende 2014 netto im Ausland für 2,06 Billionen Euro verschuldet waren, bis Ende 2014 wegen der sinkenden Zinsen einen Gewinn von 316 Milliarden Euro erzielt. Der Gesamtgewinn aus Zinssenkungen bis Ende 2015 dürfte nach einer ersten groben Schätzung gut 400 Milliarden Euro betragen. Bedenkt man, dass die Zinsen ohne den Schutz der EZB nicht gefallen, sondern gestiegen wären, dürfte es sich bei diesen Zahlen um die Untergrenze der durch die EZB verursachten Umverteilungseffekte zwischen den Volkswirtschaften handeln.
Es gibt also Grund genug, den von der EZB beabsichtigten Marsch ins negative Zinsterritorium unerhört zu finden. Irgendwann kommt der Punkt, an dem auch glühenden Europäern der Geduldsfaden reißt.