Ausgerechnet Hans-Werner Sinn, einer der vehementesten Verteidiger des Kapitalismus, präsentierte in Berlin Sahra Wagenknechts neues Buch. Doch er machte dabei einige überraschende Aussagen. Von Marcel Leubecher
Sie, die lauteste linke Stimme im Land. Er, der angriffslustigste Kapitalismuskritikerkritiker seit der ursprünglichen Akkumulation. Den perfekten Sturm hatte der Verlag zusammengebraut, um Sarah Wagenknechts jüngste Abrechnung mit dem Kapitalismus in Berlin vorzustellen.
Doch Hans-Werner Sinn, der gerade erst nach 17 Jahren das Amt des Ifo-Präsidenten niedergelegt hat, brauchte ein wenig, um in Fahrt zu kommen. Zu wenig Ärgernis bereiteten ihm die Ausführungen Wagenknechts über „gierige Banker“, „demokratische Strukturen, die teilweise von der Geldmacht ausgehebelt“ worden seien und das „Desaster in Europa, zugedeckt mit Draghis billigem Geld“.
Der Ökonom fand diese Punkte „relativ plausibel“, genau wie er auch in Wagenknechts Buch „eine Menge von plausiblen Gedankengängen“ gefunden habe, lobte Sinn und nannte ein Beispiel: „Es hat mich besonders gefreut, dass Sie in weiten Teilen Ihres Buches ein Loblied auf den Ordoliberalismus singen.“ Dieser Entwurf einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist eine der Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland.
Genau wie Wagenknecht hätten die Väter des Ordoliberalismus gegen den Monopolkapitalismus gewettert, dem sie „Fesseln anlegen wollten“ und gerade ein Gegenprogramm zum alten Laissez-faire-Kapitalismus entworfen, das staatliche Regulierung der ungezügelten Einzelinteressen möglich macht.
„Der Kasinokapitalismus ist des Teufels. Der Monopolkapitalismus ist zu verteufeln“, rief nicht Wagenknecht in den völlig überfüllten Vortragsraum in der Friedrichstraße, sondern Hans-Werner Sinn, der 2009 den Begriff Kasinokapitalismus in Deutschland eingeführt, und so sein Buch zur Entstehung der Finanzkrise betitelt hatte.
Doch der Eindruck einer Querfront ganz neuen Typs verflüchtigte sich ganz rasch, sobald das Gespräch sich von den Gebrechen des real existierenden Kapitalismus entfernte und Wagenknecht ihr Rezept verlas. „Das originär Kapitalistische, dass Unternehmen zum Zweck der Rendite existieren, das gilt es zu überwinden“. Ihre zentrale Handlungsempfehlung, Kapitalgesellschaften durch andere Unternehmensformen zu ersetzen, die von den Beschäftigten gesteuert würden, hält Sinn für gar keine gute Idee: Ohne Investitionskapital kein Fortschritt – nur wenn das Kapital sich frei zu den Geschäftsmodellen bewegen könne, die eine höhere Rendite versprechen, als jene in denen es derzeit investiert sei, könne sich das Neue und Bessere durchsetzen, so seine klassische Kapitalismusapologie.
Als Wagenknecht ihre im Buch auf vielen Seiten ausgebreitete Kritik an den kapitalismusimmanenten Innovationshemmnissen durch Kapitalmangel junger Erfinder rezitierte und auch die Versorgung von Unternehmensneugründungen mit Wagniskapital weitgehend abstritt, wurde Sinn unwirsch. „Meinungen kann man ja die und die haben, aber Sie beschreiben einen Sachverhalt falsch“, sagte Deutschlands einflussreichster Ökonom und verwies auf die zahlreichen Neugründungen gerade in Berlin, die von risikofreudigen Investoren mit Kapital versorgt würden, obwohl nur etwa jedes zehnte Start-up überlebe.
Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag und promovierte Volkswirtschaftlerin hätte sich weiß Gott einen bequemeren Sparringspartner zur Buchpräsentation einladen können, als den mit allen ökonomischen Wassern gewaschenen Professor. So trafen sich zwei Köpfe, für die oszillierende Mehrheitsmeinungen wenig relevant und schon gar kein Wahrheitskriterium sind. Und die ihre Eigenständigkeit auch optisch transportieren. Sinn mit seiner an Käpt’n Ahab oder die Quäker erinnernden Schifferkrause – und die zwischen Webstuhlfabrikantin und Rosa Luxemburg changierende Wagenknecht.
Ob die Welt nach „Kapitalismus im Koma“ (2003), „Freiheit statt Kapitalismus“ (2011) und „Kapitalismus, was tun?“ (2013) mit dem jüngsten Wagenknecht-Werk „Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ ein weiteres Kapitalismusbuch von Sahra Wagenknecht gebraucht hat? Die Autorin sagt: „Wir leben ja alle in ihm, und er umgibt uns täglich, was uns nicht immer freut.“
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