Sahra und die alten Männer

Sebastian Puschner, freitag.de, 13.04.2016

Kapitalismus: In Berlin stellt Linken-Fraktionschefin Wagenknecht mit dem Ökonomen Hans-Werner Sinn an der Seite ihr neues Buch vor

Das eine hat Linken-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht mit ihrem Vorgänger Gregor Gysi ja schlicht gemeinsam: Man kann sie hinsetzen, wohin und neben wen man will, es wird mit ziemlicher Sicherheit interessant und unterhaltsam, keinesfalls vergeudete Zeit. Bei Gysi lässt sich das etwa anhand eines Interviews mit Tilo Jung schön nachvollziehen, dessen Format „Jung & Naiv“ wohl mit kaum jemandem je besser funktioniert hat als mit Gysi. Da wäre dann aber auch gleich der Unterschied zu Wagenknecht markiert: Die Nahbarkeit. Von Gysi lässt man sich nicht nur gerne unterhalten, mit dem würde auch jeder sofort entspannt ein Kaltgetränk trinken. Mit Wagenknecht?

Hans-Werner Sinn, dem einzigen Ökonomen hierzulande, dem es in jüngerer Vergangenheit gelungen ist, über seine Zunft hinaus zu einer Person von gesamtgesellschaftlichem Interesse und Format zu wachsen, ihm hat Gysi eben in das Abschiedsbuch geschrieben: „Möge er die ruhigere Zeit dafür nutzen, im Geiste des ehrwürdigen Liberalismus neu zu formulieren, wie Wirtschaft nicht zum Vorteil unverdienter Privilegien, sondern zum Wohle der großen Mehrheit der Menschen und im Angesicht ökologischer Grenzen funktionieren sollte.“ Sinn ist gerade als Präsident des Münchner ifo-Instituts in Rente gegangen, und mit Gysi, Peter Hartz, Wolfgang Schäuble, Kardinal Reinhard Marx, Jens Weidmann, Kai Diekmann und Jürgen Trittin sind gerade einmal sieben der 111 Autoren – 105 Männer, sechs Frauen – genannt, die in „Hans-Werner Sinn und 25 Jahre deutsche Wirtschaftspolitik“ zu Wort kommen.

Kampfbegriff der Linken

Sinn, 68, nutzt die ruhigere Zeit erst einmal für Gysis Nachfolgerin Wagenknecht, am Dienstagabend in einer großen Buchhandlung in Berlin-Mitte. Natürlich stehen die Leute, die nicht mehr reinkommen, durch den ganzen Laden fast bis zur Straße, das neue deutschland hatte die Veranstaltung angekündigt. Reichtum ohne Gier. Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten heißt das neues Buch der promovierten Volkswirtin Wagenknecht, zu dessen Vorstellung Sinn geladen ist. Und bevor es um eine Wirtschaft zum Wohle der Mehrheit gehen kann, muss es natürlich erst einmal um den Liberalismus gehen, um den ehrwürdigen und den nicht so ehrwürdigen und um die Bitte Sinns, da doch bitte die Ideengeschichte historisch korrekt zu zitieren und die ordoliberale Spielart sowie Alexander Rüstow frei zu halten vom „Kampfbegriff der linken Presse“ Neoliberalismus in dessen angelsächsischer Variante.

Dass Wagenknecht und Sinn einander grün sind, ist eine banale und keine „überraschende“ Erkenntnis und dass ihr Treffen kein schnöder Marketing-Coup ist, sondern auf die Bekanntschaft der beiden miteinander zurückgeht, glaubt man dem Verlag sogar. Wen überrascht, dass Sinn „Einkommensungleichheit, Machtkonzentration, was man früher eben Monopolkapitalismus genannt hat, tatsächliche Defizite“ konstatiert, der hat ihm in der Vergangenheit nicht zugehört. Überhaupt ist das alles ja schon mal da gewesen: 2012, anlässlich der Neuauflage von Freiheit statt Kapitalismus traf Wagenknecht den CSU-Rebellen Peter Gauweiler und FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher. Gauweiler hat gerade Wagenknechts neues Buch in der Süddeutschen Zeitung überschwänglich loben dürfen.

Wie Merkel

Es eint wohl nicht nur diese beiden älteren Herren mit Wagenknecht die Überzeugung, dass all den Defiziten – dem Casino der internationalen Finanzmärkte, dem Desaster in Europa – nur auf nationalstaatlichem Wege beizukommen ist. Das Diskurs-Lasso hatte Wagenknecht schon allein mit der Intonation des damaligen Titels Freiheit statt Kapitalismus ins liberale Lager geworfen. Reminiszenzen an Ludwig Ehrhard und die soziale Marktwirtschaft – kein schlechter Zug, zumal in Zeiten, in denen das, was Gregor Gysi in jenem „Jung & Naiv“-Interview als einzige Voraussetzung für eine Koalition mit der Union formulierte – „eine ernstzunehmende, große faschistische Gefahr“ – zumindest nicht mehr ganz, total, völlig absurd erscheint. Der irren Gegenwart mit einem Zuversicht spendenden Blick zurück auf bundesrepublikanische, westdeutsche Vergangenheit zu begegnen – dieses naheliegende Klaviatur hat zuletzt noch eine andere Ostdeutsche durchaus bemerkenswert bespielt: Angela Merkel, auf dem CDU-Parteitag vom Dezember 2015 in Karlsruhe.

Dass in der Linkspartei nach Gysi an Wagenknechts theoretisches Potential, möglichst viele unterschiedliche Milieus zu erreichen, außer vielleicht Bodo Ramelow keiner auch nur ansatzweise heranreicht, ließ sich schon 2011 gut an einem Portrait des Spiegel-Autors Markus Feldenkirchen erkennen. Wenn Feldenkirchen es als Moderator dieses Abends mit Wagenknecht und Sinn nun noch vorgehabt hätte, über Euro, Deutschland, Nationales und Supranationales zu reden, dann sind es allein die beiden Diskutanten, die das verhindern: Es braucht da gar nicht mehr viel Moderation, es läuft auch so, und nachdem die Liberalismus-Exegese weitgehend abgehakt ist, geht es dann in Bezug auf die Gretchenfrage hin und her: Läuft unser ganzes Wirtschaftssystem hier einfach nur ein bisschen sehr defizitär, wird aber von einem so umfänglich wie kaum anderswo umverteilenden Sozialstaat im Großen und Ganzen schon noch recht passabel beisammengehalten (Sinn)? Oder muss man an die Grundfesten, an die Frage nach dem Eigentum, hin zu Gemeinwohlbanken (Wagenknecht)?

In der Silicon Allee

Dass Sinn ausgerechnet Berlins Start-up-Szene ins Feld führt, um zu zeigen, „dass der ganze Prozess läuft“, dass es „weiter geht“, dass der Markt das Kapital schon effizient verteilt und milliardenschwere Wagniskapitalgeber mutige Jungunternehmer mit allem ausstatten, was es braucht, um Innovationen hervorzubringen – das lässt ihn dann doch ein wenig alt aussehen neben der Autorin, die ziemlich gut versteht und in ihrem neuen Buch pointiert erklären kann, was es mit dieser ganzen Digitalökonomie, mit Wagniskapital und Jungunternehmern so auf sich hat und was da im Argen liegt (Eine Rezension des Buches wird in der am 28. April erscheinenden Freitag-Ausgabe Nummer 17 zu lesen sein). Stöhnt die hiesige Start-up-Community doch selbst immer laut über die im Vergleich zu den USA läppischen Gelder. Tja, im Silicon Valley war es eben über Jahrzehnte hinweg der Staat, der die Tech-Branche mit Milliardengeldern für vor allem militärisch motivierte Forschung ins Rennen schickte.

Sicher, es boomt schon ein bisschen an der Spree, in der „Silicon Allee“, nur weiß man nie so recht, was da eigentlich genau boomt. Was daran gut und wichtig und innovativ sein soll, dass den Hauptstädtern und ihren Touristen gerade allenthalben von Werbeflächen entgegen geschrien wird, dass sie zum Essen nicht mehr raus in Restaurant gehen, sondern sich per App nachhause beliefern lassen sollen. Boomen da nicht viel mehr Arbeitswelten, die dem entsprechen, was Wagenknecht als den fatalen Status quo jüngerer Generationen bezeichnet? Befristung. Unsicherheit. Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Freizeit.

Feldenkirchen zitiert dann noch völlig zurecht eine bemerkenswerte Passage des Buches, in der Wagenknecht darüber nachdenkt, was sich in einer Welt mit nur noch vier oder fünf Stunden Arbeit am Tag so alles anstellen ließe, in der Zeit in Hülle und Fülle wäre „für unsere Lieben und unsere Freunde, für die Lektüre guter Bücher oder den Besuch schöner Konzerte, fürs Joggen, Radfahren und Fußballspielen oder einfach, um auf einer Wiese in der Sonne zu liegen und dem Gesang der Vögel und dem Brummen einer dicken Hummel zuzuhören.“ Bücher, Konzerte, okay. „Aber Sahra Wagenknecht auf einer Wiese in der Sonne, unter dem Brummen der dicken Hummel?“, fragt der Moderator.

Ja, klar, warum nicht.

Nachzulesen bei: www.freitag.de