Zeit online, 05.05.2016 und Ludwig Erhard Stiftung, 19.05.2016
Es fing alles damit an, dass die Bundesregierung der Europäischen Zentralbank im Frühjahr 2010 das Securities Markets Programme (SMP) durchgehen ließ, im Rahmen dessen für 223 Milliarden Euro Staatspapiere der sechs Krisenländer gekauft wurden, also Papiere der Länder Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Irland und Zypern. Sowohl der frühere Bundesbankpräsident Axel Weber als auch der einstige EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark hatten protestiert, weil die Käufe das Verbot der Monetisierung der Staatsschuld verletzten, und sie traten zurück, als sie merkten, dass man nicht auf sie hören wollte.
Aber der Protest war vergebens. Die deutsche Regierung beugte sich dem französischen Druck, der ihr von dem damaligen Staatspräsident Nicolas Sarkozy, dem Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, und dem früheren EZB-Chef Claude Trichet entgegengesetzt wurde. Sie beruhigte ihr Gewissen mit der Annahme, dass der Vertragsbruch, den die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde seinerzeit freimütig eingestanden hatte, nur eine vorrübergehende Abweichung vom Pfad der Tugend sein würde.
Weit gefehlt. In Wahrheit waren die Entscheidungen erst der Startschuss für eine ganze Armada von ausufernden geldpolitischen Beschlüssen des EZB-Rates, die der Rettung der überschuldeten Banken und Staaten Südeuropas und Irlands sowie ihrer nationalen und internationalen Gläubiger diente, unter denen das französische Bankensystem bei Weitem die größte Rolle spielte. Nachdem Deutschland gezeigt hatte, dass es bereit war, wegzusehen, gab es kein Halten mehr.
Mit einem Sammelsurium von Einzelentscheidungen wurden die Bonitätsanforderungen für die Pfänder, die die Banken bei ihren Notenbanken einreichen mussten, wenn sie neu geschaffenes Geld leihen wollten, sogar unter das Schrottniveau (BBB-) gesenkt. Damit gelang es den Banken und Staaten der Krisenländer, immer mehr Kredit unterhalb der Marktkonditionen aus den nationalen (elektronischen) Druckerpressen zu ziehen, die nun im Euroraum verstreut sind.
Außerdem tolerierte der Rat der EZB, dass die Krisenländer sich für Hunderte von Milliarden Euro ELA-Notkredite mit frisch geschaffenem Geld gewährten und zudem noch Geld schufen, um in Rahmen des Anfa-Geheimabkommens auf eigene Rechnung allerlei Papiere zusammenzukaufen. Allein die italienische Notenbank erwarb im Rahmen der Anfa-Fazilitäten für über 100 Milliarden Euro Staatspapiere mit Geld aus der eigenen Druckerpresse. Diese Kreditgewährung hätten die anderen Staaten mit einer Mehrheit von zwei Dritteln im EZB-Rat verhindern können, doch leider hatten sie dafür in den entscheidenden Jahren gerade eine Stimme zu wenig.
Länder ließen hemmungslos anschreiben
Die asymmetrische lokale Geldschöpfung in den Krisenländern ermöglichte es den Bürgern, Firmen und Banken dieser Länder, Überweisungen in andere Länder in Auftrag zu geben, ohne dabei nationale Liquiditätsengpässe in Kauf nehmen zu müssen. Man verwendete das neue Geld zur Tilgung privater Schulden im Ausland, zum Erwerb ausländischer Waren und zum Kauf von Vermögensobjekten im Ausland wie zum Beispiel Immobilien in Berlin. Durch die Überweisungen, die durch die sogenannten Target-Salden gemessen werden, wurde die Liquidität zwar wieder eingezogen, doch die Notenbanken der anderen Länder, allen voran die Bundesbank, waren nun gezwungen, die Zahlungen zu kreditieren. Sie mussten selbst Geld schaffen und damit die Konten der Adressaten der Zahlungen füllen. Dabei erhielten sie nicht, wie es sonst bei der Geldschöpfung üblich ist, Forderungen gegen das heimische Bankensystem, sondern Forderungen gegen das EZB-System. Die ausländischen Gläubiger, Exporteure und Immobilienverkäufer freuten sich über diesen Geldsegen nicht weniger als die Staaten und Banken der Krisenländer selbst.
In den Jahren 2012 und 2013 gab es in Deutschland überhaupt kein Geld mehr, das die Bundesbank auf dem Wege der Kreditvergabe an hiesige Banken oder durch Wertpapierkäufe in Umlauf gebracht hatte. Es gab nur noch Überweisungsgeld aus Griechenland & Co., für dessen Ausgabe die Bundesbank eine Target-Forderung gegen das EZB-System erhielt, das selbst wiederum Forderungen an die auftraggebenden Notenbanken der Krisenländer verbuchte. Kurzum, die anderen Länder bedienten sich und ließen hemmungslos anschreiben, weil sie wussten, dass die Bundesbank ihre Forderungen niemals würde fällig stellen können.
Die Target-Salden waren nach den Rettungsaktionen vom Sommer 2012 wieder gefallen, steigen aber seit dem Sommer 2014 erneut kontinuierlich an. Allein die Target-Forderungen der Bundesbank sind inzwischen schon wieder auf 609 Milliarden Euro gestiegen, während die entsprechenden Verbindlichkeiten der südeuropäischen Krisenländer auf 688 Milliarden Euro angewachsen sind.
Jetzt sollen auch private Schuldentitel gekauft werden
Der Kern der Rettungsaktionen vom Sommer 2012 war das OMT-Programm, mit dem sich derzeit das deutsche Verfassungsgericht beschäftigt, also die unbegrenzte Deckungszusage, die die EZB den Käufern der Staatspapiere der gefährdeten Länder gab. Diese Zusage versetzte die Krisenstaaten in die Lage, sich zu niedrigen Zinsen grenzenlos zu verschulden, so weit jedenfalls, wie die europäische Kommission es unter Verletzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes von 1996 und des gehärteten Fiskalpaktes von 2012 tolerierte.
Das OMT-Programm ist mit dem schon erwähnten SMP verwandt, nach dem für 223 Milliarden Euro Wertpapiere von Krisenländern gekauft wurden. Es ist das Versprechen, diese Käufe unbegrenzt auszuweiten, wenn Länder in Schwierigkeiten kommen und die Bedingungen des permanenten Rettungsfonds ESM erfüllen. Es kommt einem kostenlosen Versicherungsschutz gleich, wie die Käufer der Staatspapiere ihn sich für viel Geld auch am Markt in Form von CDS-Kontrakten hätten kaufen können.
In den USA gehen Bundesstaaten pleite
Das OMT-Programm hat keinerlei Pendant in den USA, denn die Fed kauft überhaupt keine Staatspapiere von einzelnen US-Bundesstaaten, geschweige denn von Krisenstaaten. In den USA lässt man überschuldete Bundesstaaten pleitegehen, sodass die Gläubiger statt der Steuerzahler für die Verluste aufkommen. Nur wenn die Gläubiger selbst für ihre Fehlentscheidungen haften, kann man sie davon abhalten, auf Kosten der Gemeinschaft leichtfertig Kredite zu vergeben. Nur dann kommt es zur Selbstbremsung bei Verschuldungsexzessen.
In den USA lässt man im Übrigen auch keine Target-Salden zwischen den Distrikt-Notenbanken auflaufen wie in der Eurozone. Dort müssen die analogen Salden einmal im Jahr durch Hergabe verzinslicher und marktfähiger Wertpapiere getilgt werden. Bis 1975 war sogar eine Goldtilgung vorgesehen.
Nach der umstrittenen OMT-Entscheidung kam im Jahr 2015 das QE-Programm, im Rahmen dessen monatlich zunächst für 60 Milliarden Euro und insgesamt für über 1,2 Billionen Euro Wertpapiere gekauft werden sollen. Der Löwenanteil dient im Widerspruch zu Artikel 123 AEUV der Monetisierung von Staatsschulden. Man kauft normale Staatspapiere wie auch die Papiere der europäischen Schattenhaushalte. Dazu gehört der Juncker-Fonds und vor allem auch der Rettungsfonds ESM.
Neuerdings sollen sogar private Schuldtitel direkt von den Emittenten, also typischerweise Großfirmen, gekauft werden, um ihnen so günstigere Finanzierungsbedingungen zu verschaffen, als der Markt ihnen zur Verfügung stellt. Im Zuge dieser Maßnahme sollen die monatlichen Käufe im Rahmen des QE-Programms um 20 Milliarden Euro erhöht werden. Gekauft werden solche Papiere, wenn sie nicht einheitlich von allen Ratingagenturen als Schrott bezeichnet werden.
Kürzlich entschied die EZB außerdem, die Zinsen für Refinanzierungskredite auf null zu setzen und den Zins für Einlagen der Banken bei der Notenbank auf –0,4 Prozent zu senken. Und als ob das nicht genug wäre, legt sie nun vier sogenannte TLTROs auf, also gezielte Langzeitkredittranchen, bei denen sie als Gläubiger den Schuldnerbanken Zinsen dafür zahlt, dass sie das Geld nehmen. Der Zins für die EZB-Kredite kann ebenfalls bis zu –0,4 Prozent ausmachen, wenn die Banken diese Kredite weiterreichen.
Umverteilung von Einkommen
Diese widersinnigen Zinszahlungen an die Schuldner der EZB sowie auch die vorangehenden Zinssenkungen gehen zu Lasten der Steuerzahler der Eurozone, weil die Gewinnausschüttung der EZB an die Finanzministerien entsprechend zurückgeht. Das erklärte Ziel der EZB ist es, das gesamte Zinsspektrum zu senken und möglicherweise bis in den negativen Bereich zu drücken, um eine Inflation im Umfang von knapp 2 Prozent in der Eurozone zu erzeugen.
Als flankierende Maßnahme sollen die 500-Euro-Scheine abgeschafft werden, damit die Banken und Kapitalsammelstellen nicht die Möglichkeit haben, ihr liquides Vermögen in Form von Bargeld in Tresoren zu halten. Die Münchner Rück und die bayerischen Sparkassen erklärten kürzlich ganz offen, dass sie diesen Ausweg suchen, um den negativen Zinsen auszuweichen. In der Marktwirtschaft kann der Zins normalerweise nur um die Tresorkosten unter null liegen, weil die Kreditgeber sonst lieber Bargeld halten, anstatt ihr Geld zu verleihen. Da die Abschaffung der großen Scheine die Tresorkosten verzweieinhalbfacht, ist jetzt für Zinsen im Bereich von –0,5 Prozent bis zu –0,75 Prozent Luft.
Keine Einschränkung der Unabhängigkeit
So wird es immer weitergehen, wenn keiner die EZB stoppt. Nützlich ist das Ganze vor allem für die Schuldenländer, denn zum einen brauchen sie für ihre Schulden nun keine Zinsen mehr zu bezahlen und zum anderen könnte es ja sein, dass die von der EZB angestrebte Inflation im Euroraum tatsächlich zustande kommt, was die Schuldner zusätzlich entlasten würde. Wären die Gläubiger irgendwelche Investoren aus aller Welt, könnte man dem vielleicht gelassen gegenüberstehen. Tatsächlich aber sind die Deutschen als die großen Gläubiger, die durch ihre Exportüberschüsse nach Japan das größte Nettoauslandsvermögen auf der Welt aufgebaut haben, die hauptsächlichen Verlierer dieser Politik.
Hätte die deutsche Volkswirtschaft für ihr Nettoauslandsvermögen seit 2008 noch die gleiche Verzinsung erzielt wie im Jahr 2007, so hätte es bis Ende 2015 per Saldo (einschließlich des deutschen Staates, der von niedrigen Zinsen profitiert) um 326 Milliarden Euro mehr an Kapitaleinkommen im Ausland verdient, als es tatsächlich der Fall war. Das folgt unmittelbar aus der Zahlungsbilanzstatistik. Umgekehrt hätten die südeuropäischen Eurostaaten zusammen per Saldo 398 Milliarden Euro mehr an Kapitalerträgen an das Ausland abführen müssen. Allein im Jahr 2015 wären die Kapitaleinkommen, die Deutschland aus dem Ausland bezog, um 91 Milliarden Euro höher gewesen.
Man kann diese Zinsgewinne und -verluste nicht allein der EZB zuschreiben, denn sie ist nicht allein verantwortlich für die Kapitalrenditen. Indes zeigen sie, dass es bei der Festlegung von Zinsen beileibe nicht nur um Inflationspolitik, sondern auch um die massive Umverteilung von Einkommen und Lebensstandard zwischen den Staaten Europas geht. Der Bestand der deutschen Lebensversicherungsverträge, die Sicherheit der Riester-Renten und das Überleben des deutschen Sparkassensystems stehen auf dem Spiel.
Es ist nun an der Zeit, dass die deutsche Bundesregierung ihren Kurs ändert und dem Treiben ein Ende bereitet. Sie verfügt über die rechtlichen und faktischen Mittel dafür. Dabei geht es nicht um die Einschränkung der Unabhängigkeit der EZB, sondern darum, die EZB in ihre Schranken zu verweisen. Zur Unabhängigkeit gehört es nach der Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2014 nämlich nicht, dass die EZB die Grenzen ihres Mandats selbst bestimmen kann. Sie kann nur innerhalb dieses Mandats frei agieren und wird unter anderem durch das Verbot der monetären Staatsfinanzierung und das Verbot der Rettung von Pleitestaaten (Artikel 123 und 125 AEUV) beschränkt. Im Übrigen könnte die Bundesregierung jederzeit den Maastrichter Vertrag kündigen und eine Novellierung der Regeln verlangen, unter denen die EZB agiert. Schon die Drohung mit solchen Schritten würde Wunder wirken.
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