Neue Osnabrücker Zeitung, 31.05.2016, S. 7
Der ehemalige Chef des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, sieht die Zuwanderung skeptisch. Der Ökonom warnt vor den wirtschaftlichen Folgen einer Visa-Liberalisierung oder gar eines EU-Beitritts der Türkei. Deutschland sollte dazu übergehen, sich – wie etwa Kanada – Zuwanderer auszusuchen. Für die schnellere Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt fordert der Ökonom eine Lockerung des Mindestlohns.
Herr Prof. Sinn, die EU setzt in der Flüchtlingskrise auf die Türkei als Türsteher und bietet im Gegenzug den Türken eine Visa-Liberalisierung an und stellt einen EU-Beitritt in Aussicht. Was halten Sie als Ökonom davon?
Nichts. Für die paar tausend Immigranten, die jetzt - zusätzlich zu den Effekten des mazedonischen Zauns - vielleicht noch zurückgehalten werden, macht die Kanzlerin eine Kehrtwende bei ihrer Türkeipolitik um 180 Grad und akzeptiert eine Beschleunigung der Verhandlungen für den EU-Beitritt. Damit werden perspektivisch über 80 Millionen Türken das Recht der freien Wohnsitzwahl in Deutschland erhalten. Und wenn wir nicht artig sind und schnell genug die nächsten Kapitel für die Verhandlungen aufschlagen, werden die Türken wieder neue Syrer schicken.
Warum sind Sie bei der Immigration so skeptisch?
Die Migration wird uns sehr teuer kommen, denn es kommen überwiegend gering Qualifizierte, von denen es ohnehin schon zu viele am Arbeitsmarkt gibt.
Aber die deutsche Wirtschaft braucht doch Arbeitskräfte aus dem Ausland?
Ja, aber das sollten Leute sein, die es schaffen, mindesten durchschnittliche Einkommen zu erwirtschaften und deshalb durchschnittliche Steuern zahlen. Die meisten Immigranten sind zwar sehr fleißig, aber sie sind auch in der zweiten Generation noch nicht beim Durchschnittseinkommen der Deutschen angekommen. Sie sind deshalb eine Bevölkerungsgruppe, die weniger Steuern und Abgaben an den Staat zahlt, als sie an Sozialleistungen sowie an staatlichen Leistungen in Form der freien öffentlichen Infrastruktur, der freien Verwaltung und des freien Rechtsschutzes zurückerhält.
Warum glauben Sie, dass türkische Zuwanderer die deutsche Wirtschaft nicht voranbringen?
Gering qualifizierte Zuwanderer bringen die Wirtschaft vielleicht voran, doch haben die in Deutschland schon lebenden Menschen eher nichts davon. Die Zuwanderer kriegen selbst in der Marktwirtschaft einen Lohn in Höhe des zusätzlichen Sozialprodukts, das sie erzeugen. Außerdem ändern sie die Einkommensverteilung zu Lasten der bereits vorhandenen gering Qualifizierten und zu Gunsten der qualifizierteren Arbeitnehmer und der Wirtschaftsunternehmen, die ihre Leistungen erwerben. Die Einkommensverteilung wird ungleicher.
Laut Berichten lässt die Türkei gut ausgebildete Syrer nicht nach Europa weiterreisen….
Das ist fatal. Die Türkei lässt die Ärzte aus Aleppo nicht ausreisen, schickt aber die Kranken nach Europa, wie man hört. Man sollte das indes nicht überdramatisieren. Es werden ja nur ganz wenige aus Griechenland in die Türkei zurück geschickt, und deshalb kommen auch nur wenige im Zuge des Abkommens aus der Türkei zu uns.
Sollte Deutschland sich Zuwanderer aussuchen?
Abgesehen von der humanitären Aufgabe bei Asylsuchenden, ja. Wir brauchen ein Punktesystem wie in Kanada oder Schweden.
Deutschland muss nun mehr als eine Million Flüchtlinge integrieren. Sie sind da skeptisch und verweisen auf die Lasten für den Sozialstaat….
Wir haben keine Wahl. Deutschland muss jetzt in Schulen und Kindergärten investieren, um die Migranten und ihre Kinder so schnell wie möglich in die Wirtschaft zu integrieren. Das ist sehr gut angelegtes Geld, denn entweder bleiben die Leute in Deutschland und zahlen später wenigstens einige Steuern, oder sie gehen wieder weg und bleiben Botschafter der deutschen Sache im Ausland. Nur, je besser man integriert, desto höher müssen logischerweise die Zäune der EU werden.
Sie fordern, für Flüchtlinge den gesetzlichen Mindestlohn auszusetzen und mehr Ein-Euro-Jobs zu schaffen – um Flüchtlinge möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Damit entsteht aber doch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft?
Die Ein-Euro-Jobs hat Frau Nahles vorgeschlagen. Ich fordere längere Warteperioden von ein paar Jahren für alle neu in den deutschen Arbeitsmarkt eintretende Menschen, seien es Immigranten oder junge Einheimische. Wenn der Mindestlohn unverändert bestehen bleibt, lässt sich die Integration nicht bewerkstelligen, weil es nicht genug Stellen gibt.
Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen diese Vorschläge…
Ich verstehe sie nicht. Eine Politik, die Zuwanderer ins Land lässt und keine Arbeitsplätze anbietet, ist verantwortungslos. Nur bei sich spreizenden Löhnen gibt es unten mehr Beschäftigung. Damit deswegen die Einkommensverteilung nicht ungleicher wird, bedarf es einer Politik der Lohnzuschüsse für die Geringverdiener, so dass diese Menschen von zwei Einkommen leben können. Das ist die bestmögliche Reaktion Deutschlands auf die Flüchtlingswelle.
In der Euro-Schuldenkrise bleibt Griechenland das Sorgenkind. Sie kritisieren die ewig neuen Rettungspakete für Athen…
Ich habe mich schon 2012 dafür ausgesprochen, Griechenland die Möglichkeit zu geben, den Euro-Raum zu verlassen. Das bleibt richtig und wird immer richtiger. Waren aus Griechenland sind zu teuer, sie müssen wettbewerbsfähiger werden. Das geht nicht im Euro, sondern nur dann, wenn das Land eine eigene Währung hat und diese abwerten kann. Und die Geldgeber sollten Athen einen Teil seiner Schulden erlassen – aber nur in Verbindung mit dem Euro-Austritt, sonst geht die Schuldenmacherei von vorne wieder los.
In einigen Wochen stimmen die Briten über den Verbleib in der EU ab. Stimmt es, dass die Briten ökonomisch der große Verlierer eines Austritts wären?
Alle würden verlieren, wir auch. Denn freier Handel ist kein Nullsummenspiel, sondern alle profitieren davon. Wenn man den Handel beschränkt, dann schadet das den Briten und den Europäern. Immerhin ist Großbritannien für Deutschland der drittwichtigste Handelspartner.
Die Forderungen des britischen Premier David Cameron an die EU, etwa Sozialleistungen für EU-Zuwanderer zu beschränken, ist aber doch gar nicht so dumm, oder?
Es wäre in der Tat besser, für steuerfinanzierte Sozialleistungen der EU-Bürger ein Heimatlandprinzip einzuführen. Wer von seinem Heimatland Sozialhilfe bezieht, kann das Geld in einem Land seiner Wahl verbrauchen, aber er kann dort nicht die Hand aufhalten. Die Skepsis der Briten gegenüber der EU ist vollauf berechtigt; man hätte ihnen deshalb stärker entgegenkommen sollen. Heute kann man viel zu leicht in den Sozialstaat eines anderen EU-Landes einwandern. Das erodiert die besseren Sozialstaaten.
Nachzulesen bei: www.noz.de