So entspannend kann die Wirtschaftswissenschaft sein: An die 40 Denker haben es sich mittags in einem Seminarsaal bequem gemacht. Am Rednerpult Thiess Büttner, seines Zeichens Experte für den Bereich Öffentlicher Sektor. Der Professor hebt an, über sein aktuelles Forschungsprojekt zu sprechen, da klingelt sein Handy. "Claudia? Alles in Ordnung?"
"Lunchtime-Seminar" in München-Bogenhausen, am Ifo-Institut. Weil gerade Mittagszeit ist, gibt es Käsesemmel, Orangensaft und Cola. Kauend und krümelnd lauschen die Wissenschaftler dem Referat über die "Messung des strukturellen Defizits". Und der Referent lässt, weil seine kleine Tochter von der Schaukel gefallen ist und sich verletzt hat, kurzerhand das Mobiltelefon für Anrufe der Ehefrau an.
Das Ifo ist kommunikativ, unkonventionell - und es hat trotzdem, oder gerade deswegen, München zum bedeutendsten Zentrum der europäischen Wirtschaftswissenschaften gemacht. Dem Institut ist es zusammen mit der Ludwig Maximilians-Universität zu verdanken, dass Deutschland lange Jahre nach dem Nationalsozialismus und dem Exodus der wichtigsten Denker aus Deutschland den Anschluss an die Elite der internationalen Wirtschaftswissenschaften geschafft hat.
Dabei kämpfte die Einrichtung noch vor wenigen Jahren mit massiven Imageproblemen. Damals kam Hans-Werner Sinn als Troubleshooter ans Ifo. Ein Neustart mit Hindernissen: Sinn musste als erstes Stellen streichen. "Spaß hat es nicht gemacht, die Kürzungen zu exekutieren", sagt der 57-Jährige. Manche Feindschaft gegenüber dem hochgewachsenen Westfalen mit dem prägnanten Backenbart rührt aus dieser Zeit genährt durch den Neid auf die allgegenwärtige Medienpräsenz des lfo-Institutes.
Die ist beachtlich: Nicht nur der lfo-lndex, in dem die Einschätzungen von Geschäftsleuten abgefragt werden, bringt das Institut regelmäßig in die Medien. Auch die Analysen seiner Forscher sind gefragt. Keine wirtschaftswissenschaftliche Denkfabrik wird so oft zitiert wie das lfo-lnstitut. Das New Yorker "Wall Street Journal" rühmte das Ifo als "Deutschlands besten Think Tank". Und auch, dass ihn "Bild" mit der Bezeichnung "Chefökonom Deutschlands" adelte, dürfte Sinn nicht unrecht gewesen sein.
Wobei der Titel "bester Volkswirtschafts-Entertainer" Deutschlands angemessener gewesen wäre. Sinns Motto: Wirtschaftswissenschaftliche Zusammenhänge müssen so einfach formuliert werden, dass sie jeden interessieren und dass sie jeder versteht. Sinn sorgt dafür, dass er und sein Institut nicht in Vergessenheit geraten - mit Lust am öffentlichen Disput ohne jede Scheu vor Kameras und mit einer leicht diabolischen Freude an provokanten Thesen.
"Wer Löhne verteidigt wird Jobs verlieren" warnt er die Gewerkschaften und beschriebt die deutsche Wirtschaft als "Basar-Ökonomie", in der nur noch im Ausland vorgefertigte Teile zusammengeschraubt und dann wieder exportiert würden. Mit anderen Worten: Die Wertschöpfung in deutschen Unternehmen sei schwindsüchtig.
Viel Feind, viel Ehr: Sinn sei ein "Agent provocateur (ein Anstifter) der Berufsfunktionäre von Unternehmerverbänden", wettert etwa der Chef des bayerischen DGB, Fritz Schösser. Für andere Gewerkschafter heißt der Professor schlicht "Hans-Werner von Sinnen".
Aber damit tun sie Hans- Werner Sinn Unrecht. Der versteht sich nämlich absolut nicht als Gewerkschaftsfeind. Er hat sogar eine astreine proletarische Herkunft vorzuweisen.
Der Vater war Taxifahrer - "40 Mark die Woche. da waren wir schon froh, dass wir im Gar ten Gemüse an bauen konnten". Mit 14 Jahren half Sinn im elterlichen Kleinunternehmen, nahm morgens vor der Schule und sonntags ab sechs Uhr früh bis r4 Uhr Taxi-Bestellungen entgegen.
Sinn kann also ganz gut nachvollziehen, wie sich Menschen mit geringem Einkommen krummlegen. Gerade deswegen redet er einem neuen Lohn- und Steuersystem das Wort. "Wir brauchen staatliche Lohnsubventionen für gering entlohnte Beschäftigte, ähnlich wie in den USA.
Also eine Schicht von schlecht ausgebildeten "Working Poor" wie in Amerika, bei denen es trotz kräftezehrender Arbeit nur zum kargen Leben im Wohnmobil reicht? Sinn winkt ab. "Natürlich nicht! Wir haben dramatisch andere Vorstellungen von sozialer Ausgewogenheit." Deswegen müssten die Niedriglöhne in Deutschland durch staatliche Zuschüsse auf ein höheres Niveau gehoben werden als in den USA.
Klingt fast zu schön, um wahr zu sein - warum wird Sinn trotzdem in der Öffentlichkeit als Fürsprecher der Arbeitgeber wahrgenommen? Zum Teil liegt es daran, dass nach dem Sinnschen Modell die Löhne oberhalb der subventionierten Geringstverdiener-Ebene durch die neue Billigkonkurrenz nach unten rutschen würden - was den Widerstand der Facharbeiter provozieren muss.
Zum anderen kämpft Sinn mit dem Stille-Post-Effekt: "Nehmen wir an, ich erkläre in einem Zeitungsinterview, dass die Arbeiter die Verlierer der Globalisierung sind. Die Nachrichtenagenturen zitieren aus dem Interview "Sinn prognostiziert, dass die Löhne fallen". Andere Medien greifen das Thema auf; dann unter der Überschrift: "Sinn fordern, dass die Löhne sinken."
Also alles nur ein großes Missverständnis? Zumindest mit seiner Basar-These habe sich Sinn verrannt, sagen andere Wissenschaftler. Wenn die deutsche Wirtschaft immer komplexere Vorprodukte aus dem Ausland beziehe, zeuge dies vor allem von der internationalen Arbeitsteilung.
"Hier bestätigt sich der für Sinn typische Verzicht auf empirische Überprüfungen vieler seiner provokanten Behauptungen", ätzt der Bremer Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel. "Sinn verbiegt die Welt so lange, bis sie passt", kanzelt Klaus Zimmermann der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DlW), Sinn ab. "Sinn ist streitbar", urteilt er, "aber man muss ja nicht immer Recht haben, wenn man streitbar ist." Der DlW-Chef ist freilich selbst kein Mann von Traurigkeit, wenn es um die medienwirksame Darstellung seiner Positionen geht, wie denn überhaupt die Wirtschaftswissenschaften im Kampf um Aufmerksamkeit und Gelder nicht dazu neigen, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen.
Geschadet hat der Schaukampf der Denker dem Standort D bisher nicht - im Gegenteil. "Wir sind dafür da, Verständnis für die Zusammenhänge der Ökonomie zu wecken", sagt lfo Vorstandsmitglied Meinhard Knoche. "Das ist unsere zentrale Mission."
Mission erfüllt, möchte man hinzufügen. Dass die Schwellenangst vieler Menschen vor den Wirtschaftswissenschaften gesunken ist. liegt mit daran, dass sich die Zimmermanns und die Sinns mit Hingabe der öffentlichen Diskussion stellen. Und vielleicht auch daran, dass Claudia notfalls mitten im Referat anrufen darf.