Der Methodenstreit, der mit den Aufrufen in der F.A.Z. und im „Handelsblatt“ begann, ist nützlich, denn er hilft, die Richtung des Faches Volkswirtschaftslehre nachzujustieren. Beide Aufrufe enthalten richtige Gedanken, die die andere Seite zur Kenntnis nehmen sollte. Aber beide enthalten auch Positionen, die ich so nicht teile.
Der erste Aufruf fordert eine Rückkehr zur alten Unterscheidung zwischen Theorie und Politik. Diese Unterscheidung haben wir in München bereits Anfang der neunziger Jahre aufgegeben. Theorielose Politik ist genauso nutzlos wie Theorie ohne Politikimplikationen. Die Vorlesungen sollten jeweils beides beinhalten. Es täte manchem Theoretiker gut, wenn er seine Geisteskraft auf Themen konzentrieren würde, die für die Politik von Interesse sind. Und es ist manchem politikorientierten Ökonomen zu raten, die Theorie zu lernen, um seine Politikempfehlungen auf ein solideres Fundament zu stellen.
Der zweite Aufruf versucht, die heutige Volkswirtschaftslehre mit dem Hinweis zu verteidigen, dass sie neben der Theorie auch die Empirie im Sinne der Ökonometrie beinhaltet. Diese Verteidigungsposition halte ich für schwach. Zwar ist die Ökonometrie die zentrale Methodik für die quantitative Analyse ökonomischer Zusammenhänge und damit genauso wie die Theorie unverzichtbar für die moderne Wirtschaftsforschung. Doch mindestens so wichtig wie Theorie und Ökonometrie ist die Kenntnis der tatsächlichen institutionellen Spielregeln der Länder, wie sie in den Wirtschaftsgesetzen und Verordnungen festgelegt sind. Kurzum: Für mich besteht seriöse Volkswirtschaftslehre in einem gleichgewichtigen Dreiklang von Theorie, Institutionenlehre und Ökonometrie, um der Wirtschaftspolitik mit fundierten Empfehlungen dienen zu können.
Ich sehe ein wesentliches Defizit unseres Faches darin, dass die Institutionenkenntnis heute zu kurz kommt. Das gilt leider auch für die besten internationalen Zeitschriften unseres Faches. In der Institutionenkenntnis lag die Stärke der alten Wirtschaftspolitik und der deutschen historischen Schule, während die bisweilen erschreckende Theorielosigkeit deren Schwäche war.
Das wirkliche Geschehen in der Ökonomie wird maßgeblich durch die Gesetze und Verordnungen erklärt, die den Rahmen für privatwirtschaftliche Tätigkeit und die Anreizstrukturen festlegen, die diese Tätigkeit lenken. So kann man zum Beispiel die Finanzkrise nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was regressfreie Kredite sind, wie strukturierte Wertpapiere gebildet werden, was im Community Reinvestment Act festgelegt wurde, wie die Rechnungslegungsvorschriften des IFRS ausgestaltet sind, wie das Basel-II-System funktioniert und welche Haftungsschranken für Banken bestehen.
Das alles ist unvergleichlich kompliziertere und wichtigere Empirik als die Verwendung neuester ökonometrischer Testverfahren, deren Verwendung beweist, dass ein Forscher methodisch auf der Höhe der Zeit ist. Die Mechanismen, die die Welt in die schärfste Krise der Nachkriegszeit getrieben haben, erschließen sich einer numerisch-mathematischen Analyse nur zum Teil beziehungsweise erst im zweiten Schritt, nachdem als Erstes einmal mittels verbaler Analysen gedankliche Klarheit und Struktur in das institutionelle Dickicht gebracht wurde. Vielfach gelingt ökonomische Erkenntnis erst nach dem Studium rechtlicher Wirkungsmechanismen, die sich durch Worte verständlich beschreiben lassen, sich aber einer rein numerischen Analyse entziehen. Das Ifo-Institut hat deshalb schon vor zehn Jahren damit begonnen, eine Datenbank für den internationalen Institutionenvergleich aufzubauen, die relevante Anreizstrukturen in den Rechtssystemen wichtiger Länder auf verschiedenen Gebieten der Volkswirtschaft vergleicht, und es wird mit der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) hierzu in Kürze eine Professur ausschreiben. Die DICE-Datenbank (Database for Institutional Comparisons in Europe) gehört zu den am meisten frequentierten Teilen der Homepage des Ifo-Instituts.
Die Volkswirtschaftslehre braucht heute wieder mehr Ökonomen, die bereit sind, sich mit den Details des staatlichen Ordnungsrahmens und der Funktionsweise des Staatsapparates zu beschäftigen. In den meisten westlichen Ländern absorbiert der Staat mehr als die Hälfte des Volkseinkommens für seine Zwecke, indem er sich verschuldet sowie Steuern und Abgaben erhebt, um Transfers und öffentliche Güter zu finanzieren. Außerdem greift er durch seine Gesetze und Verordnungen massiv in die Entscheidungsfreiheit der Bürger und der Unternehmen ein. Dennoch gibt es in manchen VWL-Fakultäten die Tendenz, die finanzwissenschaftlichen Lehrstühle abzuschaffen, die sich mit der Rolle des Staates beschäftigen. Als Begründung wird häufig darauf verwiesen, in Amerika sei das Fach bereits am Aussterben. Das stimmt zwar. Ich warne aber davor, sich der amerikanischen Präferenzordnung zu unterwerfen, bloß weil eine Publikation in einer amerikanischen Spitzenzeitschrift einem Ökonomen die höchsten wissenschaftlichen Weihen verleiht.
Welche Geisteshaltung manche amerikanische Ökonomen zur Finanzwissenschaft und zur Wirtschaftspolitik haben, hat ein bekannter Ökonom aus der Chicago-Schule mir gegenüber einmal scherzhaft, aber treffend so zum Ausdruck gebracht: „Finanzwissenschaft ist die Lehre davon, wie ein wohlmeinender Staat Marktfehler korrigiert. Da es weder Marktfehler gibt noch einen wohlmeinenden Staat, ist das Fach überflüssig.“ Diese Haltung müssen wir in Europa nun wirklich nicht übernehmen. Zwar ist der Staat nicht immer nur wohlmeinend. Aber Marktfehler gibt es zuhauf, wie Finanzkrise, Umweltproblematik und viele andere Beispiele beweisen. Außerdem gibt es natürlich Fehler bei der Umsetzung staatlicher Politik. Deshalb bleibt die Formulierung institutioneller Reformprogramme und diskretionärer Politikmaßnahmen zur Überwindung von Markt- und Staatsversagen eine Aufgabe, der sich die Volkswirtschaftslehre trotz der Beratungsresistenz der Politik nicht verschließen sollte.
Hans-Werner Sinn ist Professor für Finanzwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.