Das amerikanische Geschäftsmodell bestand darin, strukturierte Wertpapiere gegen Autos und Maschinen zu verkaufen, und das deutsche Geschäftsmodell war das Spiegelbild dazu. Wir haben dem Ausland mit unseren Ersparnissen den Kredit gegeben, den es brauchte, um die deutschen Waren zu erwerben. "Weltmeisterschaft auf Pump" könnte man dazu sagen. Aber der amerikanische Traum ist inzwischen geplatzt, und auch das deutsche Geschäftsmodell zeigt Risse.
Deutschland wuchs in den letzten anderthalb Jahrzehnten kaum noch, weil es nicht mehr zu Hause investiert, sondern sein Geld ins Ausland geschafft hat. Seit 1995 ist in ganz Europa nur noch Italien langsamer als Deutschland gewachsen. Kein OECD-Land hat zuletzt so wenig investiert wie wir. Mit nur noch 117 Mrd. Euro Nettoinvestitionen lagen wir 2008 in Relation zum Inlandsprodukt vermutlich wieder auf dem niedrigsten Platz aller Industrieländer wie schon 2007. Von der deutschen Gesamtersparnis in Höhe von 283 Mrd. Euro, die für solche Investitionen zur Verfügung stand, wanderte der Löwenanteil, nämlich 166 Milliarden, ins Ausland. Sarkastisch könnte man darauf verweisen, dass die niedrige Investition zu der niedrigen Geburtenrate passt, die in Bezug auf die Bevölkerungsgröße ebenfalls die niedrigste aller OECD-Länder ist (ca. 8,2 pro 1 000 Einwohner), doch muss man sich schon die Augen reiben, wenn man diese Fakten zur Kenntnis nimmt. Auch Deutschland muss aus seinem Traum erwachen und sich den Realitäten stellen.
Das Land braucht dringend eine Politik, die seine Standortqualität verbessert und ihm im Innern wieder mehr Dynamik verleiht. Wenn wir die Maschinen, die wir in die Welt liefern, zu Hause aufstellen und die Banken den heimischen Firmen den dafür nötigen Kredit geben, anstatt das Geld an das Ausland zu verleihen, dann schrumpft zwar der Export, doch hat die Maschinenbauindustrie noch genauso viel zu tun wie vorher, und die neuen Arbeitsplätze entstehen in Deutschland statt im Ausland. Das Land wächst wieder, und die Menschen können das Vertrauen in die Zukunft entwickeln, das sie für die Gründung von Familien brauchen.
Wie kommen wir dahin? Bestimmt nicht dadurch, dass wir uns im Wettkampf mit den Chinesen geschlagen geben. Und schon gar nicht dadurch, dass wir mit Lohnsteigerungen die Binnennachfrage zu stärken versuchen. Die Strategie kann nur sein, dass die Unternehmen weiter auf Innovation setzen und der Staat den Arbeitsmarkt weiter flottmacht.
Es geht dabei nicht um Dirigismus zur Umsetzung eines staatlichen Planungsziels, sondern um das genaue Gegenteil davon. Der Staat muss aufhören, in die Lohnstrukturen einzugreifen, und wieder zulassen, dass die Löhne durch die Marktkräfte selbst gebildet werden. Über Jahrzehnte hinweg hatte Deutschland versucht, der Spreizung der Einkommensverteilung durch die Kräfte der Globalisierung entgegenzuwirken, indem der Sozialstaat Lohnersatzleistungen anbot, die faktisch als Mindestlöhne gewirkt haben. Das hat uns eine kaum noch beherrschbare Massenarbeitslosigkeit gebracht.
Mit der Agenda 2010 wurde dieser Kurs verlassen, indem der Staat den Lohnersatz in Form der Arbeitslosenhilfe gestrichen und dafür ein Lohnzuschusssystem eingeführt hat. Das hat die Löhne flexibler gemacht, einen Niedriglohnsektor geschaffen und die Binnenwirtschaft angebotsseitig belebt. Mindestens eine Million Jobs wurde im letzten Boom über das hinaus geschaffen, was man bei einer Wiederholung früherer Aufschwungmuster hätte erwarten können. Diese Reform muss komplettiert und unter anderem durch eine weitere Stärkung der Lohnzuschüsse zu ihrem logischen Ende geführt werden: einem aktivierenden Sozialstaat, der bei den Bedürftigen das Mitmachen nicht weniger als das Wegbleiben belohnt.
Dann werden sich die bislang so sträflich vernachlässigten Binnensektoren weiterentwickeln. Wenn niedrige Löhne den Unternehmen, dem Kapital und den Talenten neue Gewinnmöglichkeiten in den arbeitsintensiven Binnensektoren bieten, dann entstehen dort neue Stellen, und die Wirtschaftsstruktur wird wieder besser ausbalanciert. Ein Teil des bislang exportierten und in den Exportsektoren eingesetzten Kapitals findet in den Binnensektoren eine bessere Verwendung.
Sicherlich wird das bedeuten, dass sich die Wertschöpfung im Export nur noch verhalten entwickelt. Dafür wird aber umso mehr Wertschöpfung in den Binnensektoren entstehen, und das Wachstum wird per saldo beflügelt, weil wieder mehr Menschen mitarbeiten. Nur Zahlenfetischisten kann es stören, wenn dann die Exportstatistik nicht mehr gar so hell glänzt wie bislang.
Hans-Werner Sinn ist Präsident des Ifo-Instituts, München.