Kurz vor dem Ende des Jahres 2009 ist Paul Samuelson im gesegneten Alter von 94 Jahren gestorben. Samuelson war der bedeutendste zeitgenössische Ökonom. Er hat nicht nur die Neoklassik begründet, die langfristig-allokative Theorie von den strukturellen Entwicklungstendenzen der Volkswirtschaft. Vielseitig wie er war, hat er auch das sogenannte Modell des Akzelerators formuliert, mit dem die keynesianische Theorie zu einer Theorie des Konjunkturzyklus wurde. Gerade jetzt ist es angebracht, sich an diesen Sachverhalt zu erinnern. Denn Deutschland steht 2010 im Bann dieses Akzeleratorprinzips.
Das Akzeleratorprinzip erklärt, warum die Schwankungen der Investitionsgüternachfrage stets viel größer sind als die Schwankungen der Konsumgüternachfrage und insofern den Konjunkturzyklus erzeugen. Um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bedienen zu können, braucht man Produktionskapazität, die nur durch Kapitaleinsatz geschaffen werden kann. Steigt die Nachfrage, müssen die Kapazitäten ausgeweitet werden. Die Investitionen schießen hoch, was die Nachfrage abermals vergrößert - und in der Bauindustrie und bei den Herstellern von Ausrüstungsgütern Überhitzungserscheinungen auslöst. Fällt die Nachfrage, führt das Akzeleratorprinzip zu einer überproportionalen Senkung der Investitionsgüternachfrage, die die Wirtschaft in den Keller fallen lässt. Es entsteht ein unruhiges Entwicklungsmuster wie bei einem Motor mit Turboaufladung.
Opfer des Akzeleratorprinzips In der Krise der Jahre 2008 und 2009 hat das Akzeleratorprinzip die vom US-Immobilienmarkt ausgehende Nachfrageschwäche weltweit verstärkt. Es kam zur ersten echten Rezession der Nachkriegszeit. Die Weltwirtschaft schrumpfte um 1,1 Prozent, Deutschlands Wirtschaft brach um 4,9 Prozent ein. Dabei gingen die deutschen Investitionen um 8,4 Prozent zurück, während der private Konsum mit einem Plus von 0,3 Prozent stabil blieb. Der Export, der selbst zu einem erheblichen Teil aus Investitionsgütern besteht, schrumpfte um 14,3 Prozent. Mit seiner Spezialisierung auf Investitionsgüter wurde Deutschland zum Opfer des Akzeleratorprinzips: In keinem anderen größeren EU-Land ging die Wirtschaftsleistung so stark zurück.
Im Frühsommer 2009 endete die Rezession. Ein neuer Aufschwung begann, doch wird er 2010 verhalten bleiben, weil die Investitionen wegen der dramatischen Unterauslastung der Kapazitäten noch nicht anziehen. Der Punkt, an dem die Kapazitäten knapp und Erweiterungsinvestitionen geplant werden, die wiederum die Ausrüstungs- und Bauindustrie auf Trab bringen, ist noch weit entfernt. Je tiefer der Absturz, desto länger dauert es, bis das Akzeleratorprinzip dem Aufschwung neue Kraft beschert. 2010 hängt die Wirtschaft noch im Turboloch. Das ifo Institut erwartet ein Wachstum von nur 1,7 Prozent. Bei den Ausrüstungsinvestitionen rechnet es mit einem Plus von 1,0 Prozent, in der Bauwirtschaft dürfte der Zuwachs bei nur 0,5 Prozent liegen. Das ist zu wenig, um bei den Produzenten der Investitionsgüter die Lücke zu füllen, die durch die Rezession entstanden ist.
Immer weniger Banken vergeben Grosskredite Von den Investitionen ist auch deshalb nicht allzu viel Auftrieb zu erwarten, weil die deutsche Wirtschaft unter einer Kreditklemme leiden wird. Schon 2009 hielten sich die von riesigen Abschreibungsverlusten getroffenen Landesbanken und die Commerzbank bei der Kreditvergabe an Großunternehmen zurück. Die verstaatlichten britischen Banken zogen sich auf ihren Heimatmarkt zurück, und selbst die Deutsche Bank schraubte ihr Bilanzvolumen dramatisch herunter. Die Zahl der Banken, die heute noch für Großkredite bereitstehen, ist merklich geschrumpft, und die französischen Großbanken, die die Krise relativ unbeschadet überstanden haben, sind kein vollwertiger Ersatz. Bei den jüngsten ifo-Umfragen beklagt sich eine Mehrheit der Großunternehmen jedenfalls über eine restriktive Kreditvergabe, und die Differenz zwischen dem Ausleihungszins und dem Zentralbankzins ist auf einem Rekordhoch. Zwar stehen Sparkassen und Genossenschaftsbanken noch zur Finanzierung des Mittelstands und der Kleinindustrie zur Verfügung. Zunehmende Konkurse und höhere Risikogewichte im Basel-II-System zehren aber auch an deren Eigenkapital und zwingen sie zu mehr Vorsicht. Außerdem schwebt über den Sparkassen als Damoklesschwert die Gefahr, dass die Politik sie zu einer Beteiligung an den Verlusten ihrer Landesbanken drängen wird.
Wenn Prognosen des Internationalen Währungsfonds über die Abschreibungsverluste der westeuropäischen Banken stimmen, dürften die deutschen Banken bis Ende 2010 noch einmal 30 Prozent ihres Eigenkapitals verlieren, nachdem bereits bis September 2009 mehr als 20 Prozent abzuschreiben waren. Sie können also gar nicht anders, als ihre Kredite knapp halten und über hohe Margen neues Fett anzusammeln versuchen. So zu gesunden ist aber ein langwieriger Prozess, der sich als äußerst schädlich für die Wirtschaft herausstellen könnte. Wenn die Investoren den Turbo aktivieren wollen, droht der Aufschwung an der Kreditklemme zu ersticken. Dagegen muss die Politik - wie vom Sachverständigenrat und den Instituten empfohlen - mit einem Programm zur Rekapitalisierung der Banken angehen. Was sie bislang auf den Weg gebracht hat, reicht nicht ansatzweise aus.