Warum mangelt es an Facharbeitern? Viele glauben: wegen der vielbeschworenen demographischen Probleme Deutschlands. Das aber ist nicht wirklich der Fall. Zwar ist absehbar, dass Deutschlands Arbeitskräfte ab etwa Mitte der zwanziger Jahre knapp werden, wenn die um das Jahr 1965 geborenen Babyboomer in Rente gehen. Doch ist der heutige Mangel allein dem stürmischen Wirtschaftsaufschwung geschuldet, den Deutschland nach und wegen der Finanzkrise durchlebt. Es sind heute mehr Menschen in Deutschland beschäftigt als jemals zuvor in seiner Geschichte. Wir erleben seit vergangenem Jahr einen neuen Investitionsboom, weil sich die Banken und Lebensversicherungen nicht mehr ins Ausland trauen, sondern ihr Geld hier anbieten. Das lässt die Nachfrage nach Arbeitskräften im Bau und bei den Ausrüstungsgütern steigen. Zugleich sorgt der Investitionsboom für eine Ausweitung der Produktionskapazität, für die man perspektivisch ebenfalls neues Personal benötigt.
Es mag einen Mangel geben, aber das heißt noch lange nicht, dass man sich nun um Immigranten aus Nicht-EU-Ländern bemühen müsste. Deutschland wird nämlich ohnehin eine neue Immigrationswelle aus den osteuropäischen EU-Ländern erleben, die im Frühsommer beginnen und in den Folgejahren erheblich an Kraft gewinnen wird. Vom 1. Mai an haben die Arbeitnehmer dieser Länder mit Ausnahme von Rumänien und Bulgarien das Recht, nach Deutschland zu kommen. Deutschland hatte - anders als Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Irland - von der Option Gebrauch gemacht, seinen Arbeitsmarkt erst sieben Jahre nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder für deren Arbeitnehmer zu öffnen. Die acht osteuropäischen Länder, deren Arbeitnehmer nun kommen dürfen, haben zusammen eine Bevölkerung von 74 Millionen. In Rumänien und Bulgarien, für die von Januar 2014 an Freizügigkeit herrschen wird, leben weitere 29 Millionen Einwohner. Ein gewisser Prozentsatz all dieser Menschen wird nach Deutschland kommen.
Als die EU vor zehn Jahren gutbezahlte Gutachten vergab, um die Befürchtung zu zerstreuen, dass es nach der Osterweiterung große Migrationsströme geben würde, war der Konsens unter den Migrationsforschern, nach Beginn der Freizügigkeit würden über 15 Jahre gerade mal 2 bis 3 Prozent der osteuropäischen Bevölkerung gen Westen wandern. Das war eine gewaltige Fehleinschätzung. Europa hat inzwischen trotz beschränkter Freizügigkeit eine Massenmigration erlebt. So sind vom EU-Beitritt im Mai 2004 bis Ende 2007, also nicht einmal vier Jahre nach Öffnung der Tore einiger EU-Länder für Arbeitnehmer, 2 Millionen Polen (gut 5 Prozent der polnischen Bevölkerung) in andere EU-Länder ausgewandert. Großbritannien nahm mit 720 000 Personen unter den Zielländern der polnischen Emigranten die Spitzenposition ein.
Wegen der englischen Wirtschaftskrise sind die meisten Polen inzwischen aber wieder nach Hause zurückgekehrt und suchen neue Stellen. Viele von ihnen werden nach Deutschland kommen. Auch die 6 Millionen Migranten, die in den letzten zehn Jahren nach Spanien gingen, das selbst nur 40 Millionen Einwohner hatte, werden nach neuen Zielorten suchen. Diejenigen, die aus EU-Ländern nach Spanien kamen, immerhin 2,3 Millionen, können sich in Zukunft frei in der EU bewegen. Die goldene Dekade, die Spanien unter dem Euro durchleben durfte, ist mit dem Ausbruch der europäischen Schuldenkrise zu einem jähen Ende gekommen. Die Arbeitslosenquote liegt heute wieder über 20 Prozent wie vor der Einführung des Euro. Für die Immigranten wird es deshalb eng. Irgendwo müssen sie hin. Selbst das kleine Irland, das in den Jahren 1999 bis 2008 etwa 650000 Migranten aufgenommen hatte und nun in der Krise ist, wird wieder einmal Migranten nach Deutschland entsenden.
Durch die Migration wird sich das Facharbeiterproblem ganz von allein lösen. In Großbritannien schwärmte man von den überlegenen Fähigkeiten der polnischen Handwerker und Bauarbeiter, die in das Land gekommen waren. Wenn diese Arbeitskräfte nun nach Deutschland kommen, werden sie den deutschen Wirtschaftsaufschwung weiter beflügeln. Die Asymmetrie der europäischen Wirtschaftsentwicklung, die nach der Finanzkrise zu deutschen Gunsten ausgeht, wird eine Asymmetrie der Arbeitskräftewanderungen bewirken. Nur dann, wenn Deutschland mithilft, sein Kapital durch allzu großzügig gestrickte Rettungspakete für die Südländer wieder ins Ausland zu locken, kann es seinen Aufschwung wieder kaputtmachen und auch die Immigration von Facharbeitern verhindern.
Indes kann es auch ganz andere Migrationsströme geben, wie die problematischen Säuberungsaktionen des Nicolas Sarkozy gezeigt haben. Die Sinti und Roma kamen nach Frankreich, nicht nach Deutschland. Das lag zum einen daran, dass sie als Rumänen mit der französischen Sprache besser zurechtkamen, zum anderen lag es an der besseren Konjunkturlage, die Frankreich unter dem Euro bis zur Krise genoss. Die vertriebenen Sinti- und Roma-Gruppen werden nun zumindest zum Teil nach Deutschland kommen. Immerhin hat Deutschland ein großzügiges Sozialsystem, das schon heute wie ein Magnet auf gering qualifizierte Immigranten wirkt.
Besonders problematisch wird sich in den nächsten Jahren die Immigration der nicht erwerbstätigen Personen auswirken. Nach der Freizügigkeitsrichtlinie der EU aus dem Jahr 2004, die in Deutschland im gleichen Jahr in nationales Recht umgesetzt wurde, besteht schon seit dem 1. Januar 2005 für alle Bürger der EU-Staaten das Recht, nach Deutschland zu kommen, wenn sie hier nicht Arbeitnehmer sein wollen, also als Erwerbslose oder Selbständige einreisen. Sie haben zwar während der ersten fünf Jahre keinen Anspruch auf Sozialleistungen und müssen sich selbst ernähren. Doch nach Ablauf von fünf Jahren genießen sie automatisch ohne weiteren Antrag das Daueraufenthaltsrecht und können die steuerfinanzierten Sozialleistungen genauso wie deutsche Staatsbürger beanspruchen. Das heißt insbesondere, dass ihnen im Rahmen von Hartz IV oder der Sozialhilfe eine freie Wohnung, ein freier Krankenversicherungsschutz sowie Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt wird.
Die ersten Migranten sind im Jahr 2010 in den Genuss dieses Rechts gekommen. Das dürften zunächst nur wenige Personen gewesen sein. Schließlich bot die Massenarbeitslosigkeit im Jahr 2005 nur geringe Möglichkeiten, schwarzzuarbeiten, und von den neuen gesetzlichen Regelungen wussten die Migranten nichts. Indes werden sich die Erfahrungen der ersten Immigrantengeneration rasch herumsprechen. Vermutlich wird es daraufhin in den kommenden Jahren neben der zu erwartenden Zuwanderung der Arbeitnehmer eine zweite Immigrationswelle von Personen geben, die gar nicht die Absicht haben, längerfristig in Deutschland zu arbeiten, sondern darauf abzielen, nach der Warteperiode von fünf Jahren die deutsche Sozialhilfe zu erhalten. Das wird angesichts der desperaten Wirtschaftslage in den Heimatländern insbesondere für ältere Personen aus Rumänien und Bulgarien attraktiv sein. Sie können sich auf diese Weise völlig legal, ohne je Beiträge oder Steuern gezahlt zu haben, ein Alterseinkommen verschaffen, das weit über dem Arbeitseinkommen ihrer Heimatländer liegt.
Problematisch ist auch die Migration von gering qualifizierten Arbeitnehmern, die in den kommenden Jahren ebenfalls zu erwarten ist, denn auch sie kommen in den Genuss der staatlichen Umverteilung, die nun einmal unseren Sozialstaat kennzeichnet. Viele werden keine oder fast keine Einkommensteuern zahlen, weil sie sich der unteren Hälfte der deutschen Einkommensbezieher zugesellen, die das ja auch nicht tut. Gleichwohl werden sie in den Genuss eines steuerfinanzierten Systems staatlicher Leistungen kommen, das die gesamte staatliche Daseinsvorsorge von der freien Schulausbildung bis hin zur freien Benutzung der staatlichen Infrastruktur reicht - und zudem noch Sozialleistungen umfasst, die auch Arbeitnehmern offenstehen. Da sie Nettoempfänger staatlicher Leistungen sind, erhalten sie faktisch eine Immigrationsprämie, die zu ihrem selbst erwirtschafteten Lohn hinzutritt.
Deutschland sollte sich bemühen, statt solcher Arbeitskräfte besser ausgebildete Personen anzuziehen, die mehr für die staatlichen Leistungen zahlen, als sie in Anspruch nehmen. Eine werbende Immigrationspolitik kann sie vielleicht herholen. Auch mag sich irgendwann die Frage stellen, ob man noch mehr Facharbeiter aus Nicht-EU-Ländern hereinholen sollte. Aber dazu ist es jetzt zu früh. Erst einmal gilt es abzuwarten, wie viele Arbeiter der bald einsetzende Sturm der EU-Migranten nach Deutschland treiben wird.
Der Autor ist Präsident des Ifo-Instituts in München.