Politisches Tschernobyl

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Wirtschaftswoche, 08.08.2011, Nr. 32, S. 37

Denkfabrik | Die Debatte um europäische Ratingagenturen führt in die Irre. Der politische Versuch, die bestehenden Sicherungssysteme zu unterhöhlen, verschärft vielmehr die Gefahr von Staatsbankrotten in Europa.Von Hans-Werner Sinn

Als die Ingenieure in Tschernobyl ihr Kernkraftwerk einem Belastungstest unterwarfen, setzten sie vorher die automatische Notabschaltung außer Kraft, die gegen eine Überhitzung des Kraftwerks schützen sollte. Das Risiko eines Stromausfalls für die Region wollte man nicht riskieren. Die Konsequenzen dieser Entscheidung sind bekannt.

Die Diskussion um europäische Ratingagenturen erinnert auf fatale Weise an diese Begebenheit, denn auch hier geht es darum, Sicherungssysteme auszuschalten. Da die amerikanischen Ratingagenturen europäische Papiere angeblich zu streng bewerten und deshalb angeblich die Finanzkrise verschärfen, sollen europäische Ratingagenturen an ihre Stelle treten. Von denen erwartet die Politik offenbar mildere Urteile - auch weil man glaubt, auf sie Einfluss nehmen zu können.

Die Politik hofft, dass die Europäische Zentralbank (EZB) dann eher in der Lage sein wird, bei ihren Refinanzierungsgeschäften Papiere als Sicherheiten zu akzeptieren, die von US-Agenturen als ungenügend eingestuft werden. Damit könnten die Zahlungsbilanzdefizite der Peripherie-Staaten auch weiterhin mit frischen EZB-Krediten beglichen werden, und es wäre erst einmal Ruhe.

Indes würden die Auslandsschulden der peripheren Länder weiter anwachsen, der Schaden im Falle einer späteren Insolvenz wäre nur noch größer. Erst wirft die EZB neues Geld dem alten hinterher, dann macht es der Luxemburger Fonds genauso, dann vergemeinschaftet man die Altschulden der unsoliden Staaten - und am Ende versinken alle Länder gemeinsam im Schuldensumpf. Der Versuch, die Bankenkrise durch Ausschaltung der Sicherungssysteme zu vermeiden, vergrößert das Risiko des Staatsbankrotts, so wie der Versuch, den Stromausfall in Tschernobyl zu vermeiden, das Risiko eines GAUs provozierte.

Dass die EZB flexibel auf die besseren Ratings reagieren würde, ist angesichts ihrer Politik während der vergangenen drei Jahre nicht mehr von der Hand zu weisen. Immerhin hat sie in dem Maße, wie sich die privaten Kapitalmärkte versagten, den Zentralbanken dieser Länder die Möglichkeit gewährt, über den Eigenbedarf hinaus Geld zu drucken und zu verleihen, um die Zahlungsbilanzdefizite zu finanzieren - immerhin gut 300 Milliarden Euro in drei Jahren. Sie tat das, indem sie ihre Standards für die verlangten Sicherheiten bei Refinanzierungsgeschäften der Banken sukzessive senkte. Vor der Krise galt die Regel, dass die Sicherheiten mindestens ein A- von einer internationalen Ratingagentur brauchen. Dann brach Lehman Brothers zusammen, und man senkte am 15. Oktober 2008 den Standard auf BBB-, nicht ohne zu versprechen, bis Dezember 2009 zum alten Standard A- zurückzukehren. Das Versprechen wurde alsbald gebrochen, die Befristung bis Dezember 2010 verlängert. Und auch diese Frist hielt nicht lange. Die EZB kipptsie im März 2010 ersatzlos. Zusätzlich schaffte die Notenbank im Mai 2010 die Minimum-Standards für griechische Sicherheiten ab; das Gleiche geschah später mit irischen Papieren (März 2011) und portugiesischen Papieren (Juli 2011).

Mit dieser Politik gelang es, die schlechteren Bewertungen der Staatspapiere durch die Ratingagenturen zu unterlaufen, die im Herbst 2009 einsetzte. So ging zum Beispiel Fitch bei Griechenland im Oktober 2009 von A- auf BBB+ und senkte die Bewertung bis Juli 2011 Schritt für Schritt auf CCC, eine Schrott-Kategorie. Bei Irland verließ man den A-Bereich im Dezember 2010, bei Portugal im April 2011. Brenzlig wurde es kürzlich, als die Ratingagenturen Standard & Poor’s (im Mai 2011) und Moody’s (im Juni 2011) Italien eine Herabstufung androhten und als Gerüchte hochkamen, dass Frankreichs Top-Rating (AAA) in Gefahr sei.

Es ist verständlich und beängstigend zugleich, dass die Betreiber des europäischen Großkraftwerks nun fieberhaft nach neuen Alarmsystemen für Europa suchen, die weniger sensibel auf die Gefahren reagieren. Es stimmt zwar, dass die amerikanischen Agenturen keine echten Frühwarnsysteme waren, die die betroffenen Länder und ihre Gläubiger schon im Vorhinein auf überzogene Kreditrisiken hinwiesen. Aber sie haben alsbald die wirkliche Krisensituation schonungslos offengelegt. Man muss den Bonitätswächtern geradezu dankbar sein, dass sie heute eine funktionierende Kontroll- und Wachfunktion in Europa ausüben.

Es stimmt, dass sich die amerikanischen Ratingagenturen während der US-Finanzkrise parteiisch gezeigt haben. Aber auch das begründet keinen Zweifel an ihrer Funktion in der europäischen Finanzkrise. Parteilichkeit bei der Beurteilung der europäischen Länder kann man ihnen wahrlich nicht vorwerfen.

Deshalb sollte die Euro-Zone mit der Einführung eigener Ratingsysteme warten, bis sie ihre Schuldenkrise gelöst hat - und die Mitgliedsländer lieber durch die Verknappung öffentlicher Rettungsgelder zur Schuldendisziplin anhalten.

Sinn, Hans-Werner