DENKFABRIK | Seit der Wiedervereinigung sind zwischen 1,5 und 2,0 Billionen Euro an Transfers von West- nach Ostdeutschland geflossen.Trotzdem liegt die Wirtschaftsleistung pro Kopf in den neuen Ländern immer noch deutlich unter Westniveau - vor allem, wenn man demografische Faktoren herausrechnet.Von Hans-Werner Sinn
Am 3. Oktober werden die neuen Bundesländer 21 Jahre zur Bundesrepublik Deutschland gehören. Es gibt jetzt keine Jugend mehr, die noch in der DDR geboren wurde. Ostdeutschland ist erwachsen geworden - doch ist es auch volkswirtschaftlich auf gutem Wege?
Was der Tourist zu sehen bekommt, ist durchaus beeindruckend. Die ostdeutschen Städte sind prächtig renoviert und strahlen in altem Glanze. Nur das Wirtschaftswachstum lässt noch immer zu wünschen übrig. Zwar schrumpften die neuen Bundesländer in der Krise langsamer als die alten, doch nehmen sie auch am gegenwärtigen Boom nicht so stark teil wie der Westen. In der Summe der Jahre von 1995 bis 2010 wuchsen die neuen Bundesländer mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 1,2 Prozent nicht schneller, sondern sogar langsamer als die alten Länder. Diese legten um 1,3 Prozent zu. Nach den Erfahrungen mit anderen Konvergenzprozessen hätte man im Osten eigentlich ein höheres Wachstum erwarten können.
Sicher, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ist in der genannten Zeitspanne von 60 Prozent des Westniveaus (Ex-BRD und Westberlin) auf 68 Prozent gestiegen. Das vermittelt den Eindruck einer Konvergenz. Doch kam dieser Zuwachs allein durch Abwanderung zustande. Immerhin ging die Einwohnerzahl in dieser Zeit von 15,5 Millionen auf 14,2 Millionen Menschen zurück. Rechnet man diesen Bevölkerungsschwund heraus, so ergibt sich heute ein BIP pro Kopf in Höhe von 62 Prozent des Westniveaus. Und auch dieser Wert liegt nur deshalb um zwei Prozentpunkte über jenem von 1995, weil die westdeutsche Einwohnerzahl inzwischen gestiegen ist.
Im Übrigen darf man nicht übersehen, dass ein Teil der rechnerischen Konvergenz durch die Lohnangleichung bei den deutschen Staatsbediensteten zustande kam, die von der amtlichen Statistik wie wirtschaftliches Wachstum behandelt wurde. Bereinigt man die Zahlen auch noch um diesen Effekt, betrachtet man also das BIP der Privatwirtschaft und rechnet die Abwanderung heraus, so ergibt sich ein ostdeutscher Anteilswert von rund 60 Prozent des Westniveaus, der sich in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten nicht verändert hat. Und das ist weit weniger überzeugend als die architektonischen Leistungen, die der Tourist bewundert.
Allerdings gibt es auch Positives zu vermelden. Die ostdeutsche Industrie ist nicht mehr das zarte Pflänzchen, das nach dem Kahlschlag der Treuhandanstalt übrig geblieben war, sondern ein kräftiger kleiner Baum, der sich gut entwickelt. Nachdem die Treuhand die Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe von gut vier Millionen auf etwa 800000 reduzierte hatte, sind es heute wieder 900000 Jobs.
Wichtiger noch: Die Produktivität der Industriearbeit in den neuen Ländern ist deutlich gestiegen. Das hat den Industrieanteil an der Wertschöpfung von 1995 bis 2010 von 11 Prozent auf 17 Prozent erhöht. Wenngleich damit der westdeutsche Wert von 21 Prozent noch nicht erreicht ist, haben die Ost-Länder immerhin Italien eingeholt und Staaten wie Frankreich oder Großbritannien hinter sich gelassen, wo der Wertschöpfungsanteil der heimischen Industrie bei kaum mehr als zehn Prozent liegt.
Heute zeigt sich deutlich der Vorteil des deutschen Geschäftsmodells. Deutschland wird von seinen Facharbeitern und Ingenieuren getragen, und es überwindet mit Fleiß so manchen Fehler seiner Politiker. Man kann den Nährstock unserer Wirtschaft aber nicht mit immer mehr Transfersystemen belasten. Wenn die Haushaltseinkommen der neuen Bundesbürger von 1995 bis 2009 netto von 75 auf 80 Prozent des Westniveaus, preisbereinigt gar auf 87 Prozent gestiegen sind und die Renten pro Rentenbezieher im Ost-West-Vergleich ein Niveau von nominal 116 Prozent und real 126 Prozent erreicht haben, zeugt dies von der immerwährenden Gefahr einer Überlastung der Wirtschaft, die Deutschland mit den schröderschen Sozialreformen seinerzeit nur mühsam hat eingrenzen können.
Noch immer fließen rund 60 Milliarden Euro pro Jahr durch öffentliche Kassen von Westen nach Osten. Schätzungen für den Gesamttransfer seit der Wiedervereinigung liegen bei 1,5 bis 2,0 Billionen Euro. Die deutsch-deutsche Transferökonomie ist somit ein Lehrstück für die Politik gewesen. Viele europäische Staaten haben daran Interesse gefunden - und Deutschland hat schon mal üben können, wie ein Staat mit solch gewaltigen Lasten umgeht.
Hier lässt sich eine Brücke zur aktuellen Euro-Krise schlagen: Die Summe der Gesamttransfers für Ostdeutschland entspricht in etwa der Größenordnung aller Rettungsschirme, die die Staatengemeinschaft über die Krisenländer der Währungsunion aufgespannt hat. Alles in allem stellt die Staatengemeinschaft 1679 Milliarden Euro zur Verfügung. Bei einem Zahlungsausfall der Krisenstaaten haftet Deutschland zunächst mit 468 Milliarden Euro.
Zusammengenommen könnten all diese finanziellen Lasten für Deutschland bald zu groß werden.
»Die deutsch-deutsche Transferökonomie ist ein Lehrstück für die Politik gewesen«