Mit Niedriglohn mehr Jobs

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Presseartikel von Hans-Werner Sinn, Die Welt, 17.01.2006, S.12

"Aktivierende Sozialhilfe" könnte die Arbeitslosigkeit in Deutschland vollständig beseitigen - Unterstützung gibt es nur, wenn jeder Arbeitsfähige sich anstrengt

von Hans-Werner Sinn

Die Überwindung der Arbeitslosigkeit der gering Qualifizierten ist der Schlüssel für eine Gesundung des Arbeitsmarktes überhaupt und für die Rückkehr zu einem befriedigenden Wirtschaftswachstum. Um den gering Qualifizierten Arbeit zu verschaffen, muß man den Sozialstaat grundlegend umkonstruieren. Man muß jenen helfen, die es auch bei großer Anstrengung nicht schaffen, ein adäquates Einkommen zu verdienen.

Als Gegenleistung für die Hilfe kann man auch von den weniger leistungsfähigen Bürgern verlangen, daß sie sich anstrengen und acht Stunden am Tag arbeiten. Nur die wirklich arbeitsunfähigen Menschen müssen weiter ohne Gegenleistung versorgt werden.

Wenn man so verfährt, wird es zu Lohnsenkungen für einfache Arbeit kommen, und zu niedrigeren Löhnen wird es mehr Stellen geben. Das Ifo-Institut hat unter dem Namen "Aktivierende Sozialhilfe" bereits im Mai 2002 einen Entwurf für die Neugestaltung des deutschen Steuer-Transfersystems vorgelegt. Es handelt sich hierbei um eine Art Kombilohn, der auf die Bezieher niedriger Einkommen beschränkt ist.

Der große Vorteil der "Aktivierenden Sozialhilfe" liegt darin, daß das Konkurrenzverhältnis zwischen privater Wirtschaft und Sozialstaat aufgelöst wird. Bei der Wahl zwischen Sozialhilfe und Arbeit gibt es kein "entweder oder" mehr. Da man das staatliche Geld bekommt, wenn man arbeitet, und nicht, wenn man nicht arbeitet, ist man bereit, seine Arbeitskraft zu einem sehr geringen Lohn zur Verfügung zu stellen.

Die Untergrenze in der Lohnskala, die derzeit von der Sozialhilfe gezogen wird, verschwindet. Bei niedrigeren Löhnen lohnt es sich sowohl für Unternehmen als auch für private Haushalte, Arbeitsplätze zu schaffen. Die Pläne für Arbeitsplätze kommen aus den Köpfen und den Schubläden der Arbeitgeber heraus und werden Realität. Jeder Arbeitssuchende kommt zu Arbeit, die Arbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten verschwindet.

Ein solches System hilft auch den Arbeitgebern, denn es beseitigt ein Bollwerk gegen den Lohndruck, der von der internationalen Niedriglohnkonkurrenz ausgelöst wird. Aber der Lohn fällt nicht ins Bodenlose. Die Konkurrenz der Nachfrager nach Arbeitskräften, also der Arbeitgeber, verhindert, daß der Marktlohn allzu weit fallen muß, um die Betroffenen wieder in Arbeit und Brot zu bringen. Der Lohn kann nicht weiter fallen als bis zu dem Punkt, wo die offenen Stellen zu überwiegen beginnen, weil sich die Arbeitgeber dann beim Bemühen, Arbeitskräfte zu bekommen, gegenseitig überbieten werden.

Nach der Schätzung des Ifo-Instituts würde es bei den gering Qualifizierten zu einer Lohnsenkung um etwa ein Drittel kommen, und 2,3 Millionen gering qualifizierte Arbeitnehmer fänden neue Stellen. Pläne, nach denen die "Aktivierende Sozialhilfe" mit einem gesetzlichen Mindestlohn verbunden werden soll, um die Lohnsenkung zu verhindern, sind natürlich kontraproduktiv, denn neue Stellen kann es nur geben, wenn die Löhne für einfache Arbeit fallen.

Von den zur Schaffung neuer Stellen nötigen Lohnsenkungen sind nicht nur die neu beschäftigten gering Qualifizierten, sondern auch bereits beschäftigte Personen betroffen. Selbstverständlich werden auch ihre Löhne fallen, weil die Arbeitgeber sie sonst durch neu eingestellte Personen ersetzen würden.

Auf einem Arbeitsmarkt gibt es auf die Dauer für einen Typ von Arbeit immer nur einen Lohn. Deshalb ist es erforderlich, auch den bereits beschäftigten gering Qualifizierten mit Lohnzuschüssen zu helfen, wenn ihr Lohn fällt. Konkret geht es bei der "Aktivierenden Sozialhilfe" um folgende Reformschritte, die nur die erwerbsfähigen ALG-II-Bezieher betreffen:

- Die Unterstützung durch den Staat wird auf ein Niveau festgelegt, das im Durchschnitt um etwa ein Drittel unter dem heutigen Grundleistungsniveau liegt.

- Die so reduzierte staatliche Unterstützung wird bis zu einem selbst verdienten Einkommen von 500 Euro nicht abgeschmolzen.

- Es besteht eine uneingeschränkte Sozialversicherungspflicht der Arbeitgeber. Arbeitnehmerbeiträge sind jedoch nur für jenen Teil des Einkommens zu zahlen, der 200 Euro übersteigt.

- Das Finanzamt gewährt eine Lohnsteuergutschrift von 20 Prozent für jeden Euro bis zu einem Verdienst von 200 Euro. Diese Gutschrift bleibt für darüber hinausgehende Einkommen bis 500 Euro konstant.

- Bei Einkommen jenseits von 500 Euro wird die reduzierte Sozialhilfeleistung und die Lohnsteuergutschrift mit konstanter Rate abgeschmolzen und schließlich so mit dem einsetzenden Steuertarif verzahnt, daß von jedem zusätzlich verdienten Euro Bruttoeinkommen stets rund 30 Cent übrig bleiben.

- Diejenigen, die trotz des neuen Systems keinen Job in der Privatwirtschaft finden, können verlangen, bei ihrer Kommune zu einem Einkommen in Höhe des alten Eckregelsatzes der Sozialhilfe auf einer Vollzeitstelle beschäftigt zu werden. Kommt die Kommune ihrer Verpflichtung nicht nach, muß der alte Eckregelsatz auch ohne Arbeit weiter gezahlt werden.

- Die Kommunen erhalten das Recht, die Betroffenen unter Zuhilfenahme von Zeitarbeitsfirmen an die private Wirtschaft zu verleihen, und zwar zu einem Honorarsatz, der frei ausgehandelt werden kann und wahrscheinlich deutlich unter den Eigenkosten der Kommune liegt. Es wird einen von Null verschiedenen Honorarsatz geben, zu dem die Kommune und die Zeitarbeitsfirma Stellen in der privaten Wirtschaft findet.

Gewisse Teilelemente des Entwurfs sind in die Vorschläge der Hartz-Kommission eingeflossen. Aber diese Vorschläge richteten sich nicht speziell auf die gering Qualifizierten und wären niemals finanzierbar gewesen. Auch beim Kompromiß zwischen den Parteien vom Dezember 2003 wurden nur einige Elemente der "Aktivierenden Sozialhilfe" berücksichtigt. Vieles fehlt. Der Eckregelsatz der Sozialhilfe wurde nicht gesenkt, die kommunalen Leiharbeitsverhältnisse wurden nicht eingerichtet, der Bereich der freien Hinzuverdienstmöglichkeiten bleibt mickrig und der Transferentzug ist mit 80 bis 100 Prozent viel zu groß.

Die "Aktivierende Sozialhilfe" ist der Schlüssel zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, weil sie mithilft, die gesamte Lohnskala aufzufächern, so daß die Arbeitslosigkeit in allen Segmenten des Arbeitsmarktes verschwindet. Man sollte auf den Bundespräsidenten hören, der sie schon am 15. März 2005 für Deutschland empfohlen hat.

Der Autor ist Präsident des Münchener Ifo-Instituts.