Zwei Modelle für Europa

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Internetartikel von Hans-Werner Sinn, Project Syndicate, 29.12.2011

Die Zinsen für Staatspapiere haben sich in der Eurozone wieder so ausgespreizt wie schon vor dem Euro. Die Zahlungsbilanzungleichgewichte werden immer größer. Die Krise frisst sich von der Peripherie in den Kern, und die Kapitalflucht beschleunigt sich. Auch aus Italien und Frankreich flieht das Kapital seit dem Sommer mit wehenden Fahnen. Netto könnten mittlerweile 300 Milliarden Euro geflohen sein.

Die Notenpressen bei der Banque de France und der Banca d’Italia laufen auf Hochtouren, um den Geldabfluss auszugleichen. Aber damit wird die Flucht nur befördert, denn der Nachdruck von Geld verhindert einen Anstieg der Geldmarktzinsen bis zu dem Punkt, wo es das Kapital attraktiv fände zu bleiben. Hätte Europa die Regelungen der USA, wo die Zentralbanken der Distrikte der FED die Sondergeldschöpfung mit goldbesicherte Wertpapieren bezahlen müssen, würden sie nicht so viel Ersatzgeld schöpfen, und die Kapitalflucht bliebe begrenzt. Die Gelddruckerei ist im Grunde nur Fluchthilfe.

Will die Eurozone nicht zu Kapitalverkehrskontrollen schreiten, gibt es nur zwei Auswege: Entweder schiebt sie der lokalen Gelddruckerei einen Riegel vor oder sie garantiert den Investoren die Anlagen in Ländern, die sie für unsicher halten.

Der erste Weg ist der amerikanischen Weg. Er verlangt auch, dass das Risiko staatlicher oder privater Wertpapiere bei den Käufern liegt. Der Steuerzahler wird selbst in Extremfällen nicht zu Hilfe geholt. Staaten können in Konkurs gehen.

Der zweite Weg ist der sozialistische Weg. Er führt über Eurobonds zur Sozialisierung der Risiken der Staatspapiere. Weil alle Staaten einander kostenlose Kreditgarantien geben, können sich die Zinssätze für Staatspapiere nicht mehr nach der Bonität bzw. Rückzahlungswahrscheinlichkeit der Länder unterscheiden, und die effektiven Zinsen eines Landes sind umso niedriger, je unsolider dieses Land ist.

Der sozialistische Weg folgt zwingend aus dem freien Zugang zur Notenpresse, der das europäische System bis dato kennzeichnet. Solange sich die Banken und damit indirekt auch die Staaten, die ihre Staatspapiere an die Banken verkaufen, sich billigen Kredit in beliebiger Höhe aus dem Zentralbankensystem ziehen dürfen, wird Europa nicht zur Ruhe kommen. Die Kapitalflucht geht immer weiter, und es sammeln sich riesige Ausgleichsforderungen bei den Zentralbanken des Kerngebiets an (Target), vor allem bei der Bundesbank und der holländischen Zentralbank. In Deutschland machen diese Ausgleichsforderungen mittlerweile die Hälfte des gesamten Nettoauslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland aus (500 Milliarden Euro). Da sie bei einem Auseinanderbrechen des Euro vermutlich verloren gingen, wird der politische Druck, den Eurobonds endlich zuzustimmen, übermächtig.

Das wäre ein verheerendes Ergebnis für Europa. Der Luxemburger Rettungsfonds EFSF würde zu einer sozialistischen Planbehörde, die einen öffentlichen Kapitalfluss in Europa organisiert und die Allokationsfunktion der Märkte unterläuft. Wachstumsverluste durch eine Fehlallokation des knappen Kapitals und eine Wirtschaftsflaute der Kerngebiete wären die Folge.

Die Sache wird nicht besser, wenn man die Kreditflüsse durch eine Fiskalregierung steuern möchte, wie es die Euro-Länder nun beschlossen haben. Solange die Schuldner die Regeln mitbestimmen, wird mehr Kapital fließen, als die Märkte gestatten würden.

Die Verzerrung wird sich auch innerhalb der Zuflussländer zeigen, weil die Eurobonds vorläufig nur die öffentlichen Kreditflüsse absichern. Privaten Kreditnehmern wird sich das Kapital weiterhin verweigern, und so wird der Staatsapparat relativ zum privaten Sektor immer mehr wachsen. Otmar Issing hat in diesem Zusammenhang von einem Weg in die Knechtschaft gesprochen.

Stabil ist dieser Weg nicht, denn er läuft Gefahr, dass sich die Steuerzahler und Gewerkschaften der Kapitalexportländer gegen den Kapitalabfluss wehren werden. Konkret wird sich in Deutschland gewaltiger Widerstand aufbauen, wenn es auf dem Wege der Einführung von Eurobonds wieder in die Krise zurück getrieben wird, die es aufgrund der Zinsangleichung in Europa nach der Einführung des Euro schon einmal durchlaufen hat.

Funktionsfähig ist nur der amerikanische Weg. Kurz- und langfristige Zinsen spreizen sich nach der Bonität der Wirtschaft aus, und wenn jemand niedrige Zinsen haben will, muss er dafür echte Sicherheiten bieten.

Dieser Weg muss nicht Härte gegenüber den Krisenländern bedeuten. Man kann ihn kombinieren mit einem System der maßvollen und begrenzten Hilfe im Sinne einer Teilkaskoversicherung der Kapitalanleger gegen den Staatskonkurs, wie sie von der European Economic Advisory Group at CESifo vorgesehen wurde. Dieses Modell würde die Disziplinierungswirkung der Zinsspreizungen erhalten, doch panikartige Zuspitzungen auf den Kapitalmärkten durch eine Begrenzung der Zinsspreizung nach oben hin begrenzen. Er bietet die letzte Chance, dem Schuldensozialismus zu entkommen.

Hans-Werner Sinn ist Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Universität München und Präsident des ifo Instituts.

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