Befreiung aus der Armutsfalle

Wirtschaftswoche, 18.01.2001, S. 32

HANS-WERNER SINN

über das Beschäftigungswunder in den USA und die Reform der Sozialhilfe

Der konjunkturell bedingte Rückgang der Arbeitslosigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in Deutschland seit den Siebzigerjahren einen Trend zu mehr Arbeitslosigkeit besonders bei gering Qualifizierten gibt. Diese Arbeitslosigkeit stellt einen sozialen Sprengsatz ersten Ranges dar. Da nach der Osterweiterung der EU Millionen von Osteuropäern auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen werden, sind Probleme programmiert. Der Arbeitsmarkt verlangt strukturelle Reformen, die Reform der Sozialhilfe ist dabei wahrscheinlich die wichtigste.

Die deutsche Sozialhilfe wirkt als Lohnuntergrenze, die die Schaffung von Jobs verhindert. Niemand ist bereit, für einen Lohn unter der Sozialhilfe zu arbeiten. Und kein Unternehmer stellt jemanden ein, dessen Lohn die Arbeitsproduktivität überschreitet. Menschen, deren Arbeitsproduktivität unter der Sozialhilfe liegt, finden keine Jobs. Sie stecken in der Armutsfalle.

Diese Wirkung der Sozialhilfe kann darauf zurückgeführt werden, dass sie als Lohnersatzleistung ausgestaltet ist. Aber statt damit Untätigkeit zu finanzieren, könnte der Staat auch verlangen, dass der Begünstigte selbst ein Markteinkommen erwirbt, sofern keine sozialen oder medizinischen Gründe dagegen sprechen. Eine solche Form der Sozialhilfe wird unter dem Namen Earned Income Tax Credit in Amerika seit langem praktiziert. In Deutschland kürzt der Staat die Sozialhilfe um 70 Pfennig bis zu einer Mark, wenn man selbst eine Mark mehr verdient. In Amerika gibt er - bis zu einem gewissen Plafond - 40 Cents hinzu, wenn man einen Dollar mehr verdient.

Die deutsche Sozialhilfe zementiert eine Lohnuntergrenze. Die amerikanische macht die Löhne nach unten hin flexibel und hebt damit den Konflikt zwischen angestrebtem Existenzminimum und privatwirtschaftlicher Beschäftigung, der in Deutschland besteht, auf. Schwarzarbeit verliert an Attraktivität, die Menschen sind bereit, zu niedrigem Lohn zu arbeiten, weil sie ja erst durch den Nachweis des selbst verdienten Geldes sozialhilfeberechtigt werden. In Amerika liegen die niedrigsten Löhne bei etwa 30 Prozent der Durchschnittslöhne, in Deutschland bei etwa 70 Prozent. Kein Wunder, dass es in den USA ein Jobwunder gab, während den Deutschen die Arbeit ausging.

Trotz der staatlichen Unterstützung ist das Einkommen der gering Qualifizierten in den USA allerdings wesentlich niedriger als in Deutschland. Will man das Problem der "working poor" vermeiden, so muss das System also wesentlich großzügiger sein als in den USA. Das hat zudem den Vorteil, dass die untersten Tariflöhne umso schneller ins Rutschen kommen, was neue Jobs für gering Qualifizierte entstehen lässt. Das erzeugt einen allgemeinen Wachstumsschub, die verteilbare Menge an Gütern und Dienstleistungen steigt. Diejenigen Personen, denen man helfen will, verfügen über zwei statt nur ein Einkommen und haben bei gegebenen Sozialausgaben des Staates in der Summe aus Sozialhilfe und Lohn ein höheres Einkommen als bisher.

Zum Kern des US-Systems gehört eine erhebliche Härte gegenüber jenen, die trotz Arbeitsfähigkeit keinen Job aufnehmen. Auch ist die Dauer der Sozialhilfe begrenzt. Diese Härte steht dem Ziel, den gering Qualifizierten auf würdige Weise zu helfen, nicht entgegen, sondern erlaubt es im Gegenteil, dieses Ziel besser zu erreichen. In Deutschland schafft die Sozialhilfe ein Bewusstsein von Nutzlosigkeit, fördert Attentismus und erzeugt Gewöhnungseffekte für Kinder, die unter solchen Verhältnissen aufwachsen. Es entspricht weder dem sozial- noch dem christdemokratischen Menschenbild, Hilfe für gering Qualifizierte an die Bedingung des Nichtstuns zu knüpfen. Ein Irrsinn, den offenbar auch CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer durchkreuzen will, wenn er vorschlägt, die Sozialhilfe zeitlich zu begrenzen.

Es ist nicht auszuschließen, dass der sofortige Übergang zu einem System des Earned Income Tax Credit Reibungsverluste mit sich bringt. Die Sozialhilfe sollte deswegen allmählich gesenkt werden, und gleichzeitig sollten die frei werdenden Mittel für Lohnergänzungsleistungen genutzt werden. Sukzessive muss versucht werden, die Schutzbedürftigen aus dem Fernsehsessel an die Werkbank zu befördern und ihnen dort das angestrebte Einkommen zu sichern.

Das Problem des Übergangs liegt darin, die Akzeptanz für Niedriglohnlobs in der Wirtschaft zu steigern, ohne dabei die Schutzbedürftigen, die zunächst keinen Arbeitsplatz finden, in unzumutbare finanzielle Schwierigkeiten zu bringen. Dazu muss der Staat befristete Jobs anbieten, damit jeder versorgt ist und keiner behaupten kann, er fände keine Stelle. Dafür ist ein Lohn zu zahlen, der einerseits niedrig genug ist, so dass er nicht mit der Privatbeschäftigung konkurriert, und andererseits hoch genug, um ein angemessenes Gesamteinkommen zu sichern.

Wer nicht arbeitet, obwohl er arbeitsfähig ist, kann nur sehr wenig Hilfe vom Staat beanspruchen; wer die staatliche Beschäftigung annimmt, soll dafür zusätzlich einen Lohn bekommen, der ihn auf ein Gesamteinkommen in Höhe der jetzigen Sozialhilfe hievt; und wer sich selbst einen Privatjob besorgt, erhält seinen Lohn und eine Lohnergänzungsleistung, die sein Gesamteinkommen über dasjenige im Falle der staatlichen Beschäftigung anhebt - das sind die Grundregeln eines neuen, aktivierenden Sozialhilfesystems, das es den Menschen erlaubt, sich mit eigener Kraft aus der Armutsfalle zu befreien. Nur so kann der Arbeitsmarkt für die New Economy, die Globalisierung und die Osterweiterung der EU fit gemacht werden.

Hans-Werner Sinn, 52, ist Präsident des Münchner Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung und Professor für Nationalökonomie.