Die alte Koalition hat eine zweite Chance. Ihre knappe Mehrheit wird aber wohl nicht reichen, die grundlegenden wirtschaftlichen Reformen durchzubringen, die seit langem überfällig sind. Eigentlich bräuchte man eine große Koalition, um die gewaltigen Aufgaben zu schultern.
So kann man nur hoffen, dass die Koalition aus den vergangenen vier Jahren gelernt hat und sich nun den langfristigen Wirtschaftsproblemen des Landes zuwendet. Das bloße Warten auf den Aufschwung reicht nicht aus.
Deutschland steckt in einer fundamentalen Wirtschaftskrise, die wenig mit Konjunktur und viel mit Verkrustungen des Sozialsystems und der Arbeitsmärkte sowie mit der Vernachlässigung der Bildung zu tun hat.
Vordringlich ist der Umbau des Sozialsystems von Lohnersatzleistungen in Richtung auf Lohnergänzungsleistungen. Die heutigen Lohnersatzleistungen erzeugen Ansprüche an einen neuen Arbeitsplatz, die oft zu hoch sind und nicht erfüllt werden können. Arbeitslosen- und Sozialhilfe sind daher zu vereinen und drastisch zu kürzen. Mit dem eingesparten Geld sind Lohnsubventionen im Niedriglohnbereich zu zahlen.
Um zu verhindern, dass Armut entsteht, müssen staatlich garantierte Leiharbeitsverhältnisse im Niedriglohnbereich - aber nur dort - zur Verfügung gestellt werden. Hilfe zur Selbsthilfe ist die Devise des neuen Sozialstaates. Mit 500-€-Jobs oder nur einer besseren Arbeitsvermittlung à la Hartz wird man dagegen so gut wie gar nichts erreichen.
Weniger Kündigungsschutz
Zudem muss das Arbeits- und Tarifrecht entrümpelt werden. Der Flächentarifvertrag darf keine Kartellvereinbarung sein: Wenn die Mehrheit der Belegschaft eines Betriebes zum Zwecke des Erhalts der Arbeitsplätze Lohnsenkungen akzeptiert, dann darf das keine Gewerkschaft verhindern. Zahlreiche rechtliche Vorschriften schützen heute das Kartell. Mit einem funktionsfähigen Arbeitsmarkt sind sie nicht vereinbar. Der Kündigungsschutz muss für neu einzustellende Arbeitnehmer abgeschwächt werden, damit sie überhaupt eingestellt werden. Zumindest ist die Option einzuräumen, Verträge mit eingeschränktem Schutz abzuschließen. Der Staat darf auch nicht länger der Komplize des Kartells der Arbeitsplatzbesitzer sein, indem er durch Frühverrentung, Altersteilzeitregelungen und Job-Aktiv-Gesetz Arbeitslose versteckt und so Druck aus dem Arbeitsmarkt nimmt. Leistungsfähige Arbeitnehmer werden heute mit 60 oder früher durch staatliche Zuschüsse zum Nichtstun veranlasst - eine Politik, mit der schon die Regierung Kohl begonnen hatte. Das zeigt entweder grenzenlos naive Vorstellungen vom Funktionieren des Arbeitsmarktes, Skrupellosigkeit beim Schönen der Statistik oder Willfährigkeit gegenüber dem Tarifkartell. Diese Politik kostet Unsummen und ist Gift für den Arbeitsmarkt. In einem Land, dessen Bevölkerung immer älter wird, müssen die Altersgrenzen herauf- statt herabgesetzt werden.
Das akademische Bildungswesen ist grundlegend umzukrempeln, ohne die duale Ausbildung in Frage zu stehen, die eine wirkliche Stärke Deutschlands ist. Ganztagsschulen sollten das dreizehnte Schuljahr ersetzen, die naturwissenschaftliche Ausbildung sollte gestärkt werden. Vor allem muss der Lehrerberuf stark aufgewertet werden. Der Lehrer muss wieder die anerkannte Persönlichkeit werden, die er vor 100 Jahren war, als Deutschland bei der Bildung die Spitzenposition einnahm. Die Besten des Landes sollten Lehrer werden, nicht die, denen die Privatwirtschaft zu stressig ist und die man dort nicht gebrauchen kann.
Höhere Gehälter
Nur durch eine drastische Anhebung der Gehälter für neu eingestellte Lehrer wird man die Fähigsten anziehen können. Es kann nicht angehen, dass der Staat 30 Prozent des Sozialproduktes für soziale Zwecke, doch nur vier Prozent für die Bildung ausgibt. Bei den Universitäten muss der Wettbewerb erlaubt werden, damit sich Zentren der Spitzenforschung herausbilden können.
Die Bildungsreform kostet Geld. Zugleich muss die Abgabenlast der Arbeitnehmer gesenkt werden. Dass Deutschland den durchschnittlichen Arbeitnehmer mit einer Grenzabgabenlast von 66 Prozent belegt und damit international an der Spitze liegt, ist einer der Hauptgründe für die Arbeitslosigkeit und das Abtauchen in Schwarzarbeit.
Die Abgabensenkung bei gleichzeitigem Ausbau des Bildungswesens schafft gewaltige Budgetprobleme. Staatsverschuldung kommt schon wegen des Maastricht-Vertrags nicht in Betracht, nennenswerte Privatisierungserlöse kann man derzeit kaum erzielen. Daher führt kein Weg an breitflächigen Ausgabenkürzungen vorbei.
Die Durchsetzung dieser- Kürzungen wäre die eigentliche Aufgabe der neuen Regierung. Eine Kürzung der Subventionen um die Hälfte brächte 50 bis 75 Mrd. € jährlich und würde eine Senkung der Staatsquote um 2,5 Prozent ermöglichen. Die Krankenversicherung könnte ohne weiteres privatisiert werden, und eine neue Rentenformel, die den Anstieg der Renten abbremst, würde erhebliche Entlastungen bringen.
Ohne den Sozialetat anzutasten, lässt sich Deutschland nicht zukunftsfähig machen. Aber mit knappen Mehrheiten ist eine solche Reform nicht möglich.
Hans-Werner Sinn lehrt Volkswirtschaft an der Universität München und leitet das Ifo-Institut. |