Noch einmal Illusionen

Die Osterweiterung der EU ist ein politischer Glücksfall. Aber Deutschland ist - wie schon bei der Wiedervereinigung - ökonomisch nicht darauf vorbereitet
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Financial Times Deutschland, 12.12.2002, S. 36

Die Osterweiterung der EU ist die zweite Wiedervereinigung, an der Deutschland in kurzer Zeit teilnimmt. Wie die erste Vereinigung liegt sie in der Logik der Geschichte. Auch sie ist ein Glücksfall, denn sie überwindet die Erniedrigung vieler Europäer unter dem kommunistischen Regime, und sie schafft langfristig eine Zone der Sicherheit und ökonomischen Prosperität für den alten Kontinent.

Der Unterschied zwischen politischem Wunschdenken und ökonomischer Wirklichkeit wird freilich wieder ähnlich groß sein wie bei der ersten Vereinigung. Es ist politisch nicht korrekt, die ökonomischen Schwierigkeiten anzusprechen. Wieder wird die Politik vom Schwung der eigenen Worte vorangetrieben. Ergriffen von der Bedeutung des Ereignisses schlägt man die Warnungen der Ökonomen in den Wind.

Die Wahrheit ist, dass zumindest Deutschland für die europäische Vereinigung noch nicht fit ist. Deutschland steht in der schwersten Krise der Nachkriegszeit: Das Wachstum lahmt seit Jahrzehnten. Die Banken und das Staatswesen stecken in einer Finanzierungskrise größeren Ausmaßes. Mehr und mehr Arbeitgeber ziehen sich aus den verkrusteten Arbeitsmärkten zurück. Die Zahl der Insolvenzen steigt dramatisch, die Arbeitslosenzahlen steigen selbst in Westdeutschland nach einem linearen Trend, der seit 30 Jahren unverändert anhält.

Der sich selbst tragende Aufschwung ist in den neuen Bundesländern auch nach einem Dutzend Jahren noch nicht in Sicht. Noch immer stammt jeder dritte Euro, der dort ausgegeben wird, aus dem Westen.

Die Osterweiterung wird die EU um knapp 80 Millionen Menschen erweitern, von denen viele in den Lohnwettbewerb mit dem Westen eintreten werden. Zu Lohnkosten, die in praktisch allen Ländern - ausgenommen Slowenien - unter 17 Prozent der westdeutschen liegen, werden sie den westdeutschen Wirtschaftsstandort in die Zange nehmen und seine ohnehin geschwächte Wettbewerbsfähigkeit weiter verringern. Niedriglohnprodukte aus Osteuropa werden deutsche Produkte verdrängen, und deutsche Unternehmen, die ohnehin schon allesamt in den Startlöchern stehen, werden ihre Investitionen in den Osten verlagern. Außerdem werden die großen Lohnunterschiede im Verein mit dem deutschen Wohlfahrtsstaat massenhafte Zuwanderung anregen, die man auch durch politisch oktroyierte Kontingente kaum in den Griff bekommen wird - allenfalls um den Preis einer noch rascheren Abwanderung des Investitionskapitals. Die Probleme des deutschen Wirtschaftsstandortes werden nach der Osterweiterung nur noch deutlicher zu Tage treten.

Die Entwicklung würde glimpflicher verlaufen, wenn Deutschlands Arbeitsmärkte flexibel wären und die Lohnstrukturen auf die neuen Wettbewerbsverhältnisse reagieren würden. Die Wirtschaft würde dann von der Osterweiterung profitieren, weil sie stets wettbewerbsfähig bliebe und die zuwandernden Arbeitskräfte mit Jobs versorgen könnte. Die neuen Möglichkeiten für den Handel mit Kapital, Gütern und menschlicher Arbeitskraft brächten hüben wie drüben Wohlfahrtsgewinne für die Beteiligten mit sich.

Leider ist diese Bedingung nicht annähernd erfüllt. Der Flächentarifvertrag schließt die notwendige Lohnanpassung nach unten aus; auch der passivierende Sozialstaat verhindert mit Lohnersatzleistungen, die faktisch Mindestlöhne definieren, dass die Lohnstrukturen sich anpassen.

Einen Vorgeschmack von dem, was kommen wird, liefert der Anstieg der Arbeitslosigkeit in Bayern, der zuletzt auffällig war, obwohl die bayerische Arbeitslosigkeit immer noch eine der niedrigsten in Deutschland ist. Bei einer Gesamtzahl von gut 300.000 Arbeitslosen sind allein im Jahr 2001 etwa 100.000 Personen aus anderen Bundesländern zugewandert, von denen der Löwenanteil aus Thüringen und Sachsen stammt und sich in den grenznahen bayerischen Gebieten niedergelassen hat. Die Zuwandernden haben im schnell rotierenden Karussell des Arbeitsmarktes Jobs besetzt, bevor bayerische Arbeitslose dort Platz nehmen konnten. Statistisch führte die Zuwanderung in die Arbeitslosigkeit.

Deutschland hat heute zwei Möglichkeiten. Die erste, wahrscheinlichere, ist, dass es die Warnungen der Ökonomen wieder in den Wind schlägt und die Probleme auf sich zukommen lässt. Dann wird es weiter zurückfallen, und man muss nur hoffen, dass die zunehmende Arbeitslosigkeit nicht in eine politische Instabilität des Landes umschlägt.

Die andere ist, dass es agiert, bevor das Kind im Brunnen liegt. Selten waren sich die Fachleute so einig wie heute. Der wissenschaftliche Beirat beim Wirtschaftsministerium, der Sachverständigenrat und das Ifo-Institut haben gleichlautende Vorschläge zur Schaffung eines aktivierenden Sozialstaates unterbreitet, um den zu erwartenden Druck auf die Arbeitsmärkte aufzufangen und in eine produktive Entwicklung umzulenken. Zudem liegen Vorschläge zur Mitbeteiligung der Arbeitnehmer an ihren Betrieben, zur Eindämmung des Sozialtourismus, zum Umbau des Steuersystems und zum Abbau der Überregulierung auf dem Tisch. Die Politik sollte zugreifen.

HANS-WERNER SINN ist Präsident des Ifo-Instituts, München.