Frankfurter Neue Presse, 24.10.2016, S. 3
Professor Hans-Werner Sinn (68) war bis März 2016 Leiter des renommierten Ifo-Wirtschaftsinstitutes. Der Finanzwissenschaftler ist vor allem als Kritiker der Euro-Politik der Bundesregierung und der Europäischen Zentralbank (EZB) auch einem breiteren Publikum bekanntgeworden. In seinem neuen Buch „Der schwarze Juni“ fordert er vehement eine Umkehr nicht nur in der Währungs- sondern auch in der Zuwanderungspolitik. FNP-Politikchef Dieter Sattler sprach mit Professor Sinn auf der Buchmesse.
Professor Sinn, Sie waren bis vor kurzem der meistzitierte und einflussreichste Ökonom in Deutschland. Wie kommen Sie mit dem Ruhestand, oder bei Ihnen wohl besser, dem Unruhestand, zurecht?
SINN: Besser als ich dachte. Der erste Monat war ein bisschen verwirrend, weil die normalen Routinen wegfielen, es war alles anders. Aber ich bin so vollgeladen worden mit Terminen, dass Langeweile noch nicht aufgekommen ist. Außerdem will ich weiter wissenschaftlich arbeiten und Bücher schreiben, wie ich das auch vorher getan habe.
In Ihrem neuen Buch gehen Sie stark auf die Euro-Krise ein. Aber die Euro-Krise ist ja etwas aus der Wahrnehmung der breiten Öffentlichkeit verschwunden. Worin besteht eigentlich die Krise noch in Ihren Augen?
SINN: Südeuropa hängt in den Seilen. Italiens Industrieproduktion ist 22 Prozent unter dem Vorkrisenniveau, Spanien liegt 25 Prozent darunter. Auch Frankreich ist stark abgeschlagen. Es gibt kein Wachstum seit Jahren. Den Leuten liegen die Nerven blank. Die Massenarbeitslosigkeit ist unerträglich. Wir sind hier in Deutschland auf der Insel der Seligen. Wir begreifen eine Krise nur durch Schlagzeilen in der Zeitung. Aber nicht in unserer Lebenswirklichkeit. Das ist in Südeuropa total anders. Die Leute radikalisieren sich unter dem Einfluss ihrer Verhältnisse und suchen andere Wege. Das ist das auch auf uns schließlich zurückschlagende Risiko.
Sie zitieren in Ihrem Buch verschiedene Krisen und kritisieren die Bundesregierung bei Eurokrise, Brexit, der, wie Sie sagen, auch mit der deutschen Flüchtlingspolitik zu tun hat, und natürlich die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin selbst. Was sagen Sie, wenn Ihnen eine gewisse Nähe zur AfD vorgeworfen wird?
SINN: Ich gehöre keiner Partei an. Ich bin absolut auf Distanz, auch zur AfD. Dass sich gewisse Kritiken überlappen, das ist ja auch mit anderen Parteien so, mit den Grünen, der SPD und der CSU, ja sogar mit den Linken. In England gibt es viele, die diesen europäischen Weg kritisieren. Deswegen sind die Briten ja ausgetreten. Die Linkspartei in persona Gysi hat bekanntlich geklagt gegen die Währungspolitik der Europäischen Zentralbank. Also was soll diese Frage?
Aber gibt es zumindest Versuche von dieser Seite, Sie zu vereinnahmen?
SINN: Die gibt es natürlich immer mal wieder. Es gibt Einladungen, irgendwohin zu kommen, die lehne ich alle ab. Das gilt für alle Parteien. Ich gehe nicht zu Parteien.
Wie würden Sie sich politisch beheimaten? Liberaler, Wertliberaler, konservativer Liberaler?
SINN: Ich bin ein Ökonom. Diese Beheimatung in dem Links-rechts-Spektrum der Politik in Deutschland behagt mir überhaupt nicht, weil ich mich nicht auf einem Zahlenstrahl von links nach rechts einordnen könnte. Das ist ein vieldimensionales Problem. Man ist für die Deregulierung des Arbeitsmarktes, aber für die stärkere Regulierung der Banken, man ist für Umverteilungsmaßnahmen von reich zu arm, um die Einkommensverteilung gleichmäßiger zu machen, aber man ist dagegen, dass dieses Geld unter der Bedingung des Nichtstuns gegeben wird. Das lässt sich doch alles nicht über einen Kamm scheren. Ich finde dieses Links-Rechts-Denken und die Modelle, die sich Nichtökonomen vom Kopf eines Ökonomen machen, nicht sehr überzeugend. Das ist einfach ein pragmatischer Ansatz, der eben auf der volkswirtschaftlichen Theorie basiert, ein wissenschaftlicher Ansatz.
Am Ende ihres neuen Buches skizzieren sie 15 Punkte zur Rettung Europas, das sie als gefährdet ansehen. Könnten Sie die drei wichtigsten Punkte nennen, wie man Europa retten kann?
SINN: Da ist einmal das Thema Euro. Man muss den Euro flexibler machen als atmende Währungsunion, aus der man auch austreten kann, wenn man wettbewerbsmäßig nicht zurechtkommt. Das zweite ist, man muss bei der Migration im Inneren Europas andere Regeln haben und ein Heimatlandprinzip statt des Gastlandprinzips einführen, damit nicht die Sozialstaaten zu Magneten für Sozialmigranten werden. Denn diese Art der Migration, dieser Teil der Migration ist ineffizient. Effizient ist Migration, wenn sie durch Lohnunterschiede getrieben ist, die Produktivitätsunterschiede anzeigen, aber nicht, wenn ein Umverteilungsgeschenk des Staates noch hinzukommt. Das ist eine Immigrationsprämie. Die muss man abbauen. Nicht indem man den Sozialstaat abschafft. Man muss auch nicht die Freizügigkeit einschränken. Aber man kann sagen, dass Leute, die soziale Ansprüche haben, weil sie bedürftig sind, diese Ansprüche gegen ihr Heimatland richten sollten. Wohlgemerkt, es geht um innereuropäische Wanderungen. Alle Länder genügen den Mindeststandards der EU, was die sozialen Leistungen betrifft. Und das Dritte wäre, wir müssen auch ein positives Signal für die europäische Integration setzen und auch da voranschreiten, wo bislang das größte Defizit besteht. Das ist die militärische Zusammenarbeit. Wir brauchen eine gemeinsame Armee. Ich finde es einen Anachronismus, dass wir es nicht geschafft haben, nach dem schrecklichen zweiten Weltkrieg hier eine Friedensordnung zu schaffen, wo man tatsächlich auf die nationalen Armeen verzichtet.
Sie wollten sich vorhin politisch nicht so genau zuordnen lassen. Sehen Sie irgendwo Kräfte in Deutschland, in einer Partei oder in einer Gruppierung innerhalb einer Partei, die das, was Sie wollen, am ehesten umsetzen könnte?
SINN: Es gibt Personen, mit denen ich Symmetrie sehe. Ich sehe sie bei Steinmeier mit seiner Russlandpolitik, ich sehe sie bei Schäuble mit seiner Europapolitik, ich sehe sie bei Seehofer mit seiner Migrationspolitik. Ich sehe sie bei der FDP mit der grundsätzlich marktliberalen Orientierung. Ich sehe sie bei der alten AfD von Lucke, was die eurokritische Position betrifft. Aber jeder hat eben auch Dinge, die mir weniger gefallen. Insofern wehre ich mich mit Händen und Füßen gegen die Vereinnahmung einer Partei. Das passt überhaupt nicht zu einem wissenschaftlichen Grundansatz. Da müsste man sich ja allem unterwerfen, was irgendwelche Mehrheiten beschlossen haben.
Sehen Sie bei all diesen verschiedenen Ansätzen quer durch die Parteilandschaft überhaupt die Möglichkeit, Ihre Positionen in eine konsistente Politik zu überführen?
SINN: Das ist nicht meine Aufgabe. Als Volkswirt habe ich eine andere Aufgabe. Ich muss mich am öffentlichen Diskurs beteiligen. Wer sich da was rauspickt an Argumenten, das bleibt ihm selber überlassen.
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