Verschlimmerung der deutschen Krankheit

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Financial Times Deutschland, 20.10.2003, S. 26

Die Festlegung eines ortsüblichen Vergleichslohns verhindert neue Jobs

Die deutsche Krankheit ist die extrem hohe Arbeitslosigkeit bei den gering Qualifizierten. Hier liegt Deutschland an der Spitze der OECD-Länder. 40 Prozent der deutschen Arbeitslosen sind formell gering qualifiziert und auch bei den übrigen 60 Prozent konzentriert sich die Arbeitslosigkeit auf die weniger gut Qualifizierten. Die Politik der Sockellohn-Vereinbarungen im Verein mit einem überdurchschnittlichen Anstieg der Lohnersatzeinkommen hat die Lohnskala in den letzten 30 Jahren von unten her zusammengestaucht, obwohl die Niedriglohnkonkurrenz aus aller Welt eine stärkere Spreizung erfordert hätte. Dies ist die Ursache der deutschen Krankheit.

Die wichtigsten Lohnersatzeinkommen, die den Lohnauftrieb bei gering Qualifizierten hervorgerufen haben, sind Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Beide werden gezahlt, wenn man nicht arbeitet, und versiegen, wenn man es tut. Sie schaffen Anspruchslöhne, die über der Produktivität vieler Betroffener liegen und deshalb eine auch für den Arbeitgeber profitable Anstellung unmöglich machen. Es ist gut, dass Hartz IV nun wenigstens die Arbeitslosenhilfe abschafft. Aber das reicht nicht, weil die Sozialhilfe selbst viel zu hoch ist, als dass die von ihr erzeugten Anspruchslöhne mit einem Beschäftigungsschub im Niedriglohnbereich kompatibel wären. Für einen solchen Schub müssten die heutigen Niedriglöhne sicherlich um ein Drittel fallen.

Damit dies geschieht, sollte der Eckregelsatz der Sozialhilfe für Erwerbsfähige gesenkt werden, und im Ausgleich großzügige Hinzuverdienstmöglichkeiten bei gleichzeitiger Zuzahlung zu geringen Einkommen geschaffen werden, ähnlich wie es in Amerika mit dem Earned Income Tax Credit geschieht und wie es das ifo Institut mit seiner Aktivierenden Sozialhilfe empfohlen hat. Dann steigen die Einkommen der gering Qualifizierten, und trotzdem werden Jobs geschaffen. Damit jeder ein akzeptables Einkommen verdienen kann, müssen die Kommunen freilich bereit sein, für den Notfall Leiharbeitsverhältnisse anzubieten, die in Höhe der jetzigen Sozialhilfe bezahlt werden.

Wenn die Politik die Absenkung des Eckregelsatzes nicht wagt, dann muss sie wenigstens die Zumutbarkeitsregeln verschärfen. Zumutbar muss jede Arbeit sein, auch wenn der Lohn deutlich unter der Sozialhilfe liegt, denn die staatliche Zuzahlung zum Lohn schafft ja den Ausgleich. Das ist der Kein des Gesetzentwurfs der Bundesländer, der auf dem ifo-Vorschlag basiert.

Leider wird genau das durch die Vergleichslohnregelung verhindert, die die SPD-Linken durchgesetzt haben. Die Sozialhilfe wird nur gekürzt, wenn man eine zumutbare Arbeit verweigert, aber zumutbar ist keine Arbeit, deren Lohn unter dem ortsüblichen Vergleichslohn liegt. Damit ist Hartz IV zur Wirkungslosigkeit verdammt, denn bekanntlich gibt es zu den ortsüblichen Vergleichslöhnen nicht genug Stellen.

Einen gewissen Mobilisierungseffekt am Arbeitsmarkt wird es nur insofern geben, als höher qualifizierten Arbeitslosen zugemutet wird, einfachere Stellen anzunehmen. Bei ihnen wird die Arbeitslosigkeit wohl sinken. Der Effekt wird aber größtenteils durch Verdrängung der weniger gut qualifizierten Arbeitnehmer zustande kommen, die mehr Konkurrenz bekommen. Bei ihnen wird die Arbeitslosigkeit noch verstärkt. Damit ist Hartz IV das Gegenteil von dem, was der Arbeitsmarkt braucht. Das Gesetz erlaubt eine Lohnsenkung in jenen Segmenten des Arbeitsmarkts, in denen die Arbeitslosigkeit gering ist und verhindert sie da, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist.

Falscher kann man die Reform kaum konstruieren, Nun muss man auf den Bundesrat setzen. Ein Lob dem föderalen System, das die Umsetzung der unsinnigen Wünsche der SPD-Linken verhindern wird.

HANS-WERNER SINN ist Präsident des Münchner ifo Instituts für Wirtschaftsforschung.