Eine Zerlegung in zehn Punkten / Von Hans-Werner Sinn
Wir Deutschen sind stolz auf unseren Sozialstaat. Schließlich wurde Bismarcks Erfindung von den meisten entwickelten Ländern kopiert. Neben der Reformation, der klassischen Musik und der Kernphysik ist der Sozialstaat die vierte große Errungenschaft, mit der Deutschland seine Fußspuren in der Geschichte der Menschheit hinterlassen hat.
Der Sozialstaat nimmt den einen und gibt den anderen, um so eine gleichmäßigere Einkommensverteilung herbeizuführen, als sie der Markt von allein hervorbringt. Das ist vom Grundsatz her gut so, denn einige Menschen verfügen über eine so geringe Leistungsfähigkeit, daß sie von dem, was sie selbst erwirtschaften, nicht leben können. Aber man kann es auch übertreiben, denn die Korrektur der Marktentlohnung ruft stets auch Verhaltensänderungen bei den Bürgern hervor, die Sand im Getriebe der Marktwirtschaft sind und die mögliche Verteilungsmasse verringern. Da die Umverteilung von der rechten in die linke Tasche geht, versucht der Bürger mit großer Anstrengung, die rechte Tasche zuzuhalten und die linke weiter zu öffnen. Das verhindert den Mittelfluß zwar nicht wirklich, weil der Staat seine Steuer- und Fördersätze entsprechend erhöht, doch steht immer weniger Kraft für den Erwerb neuer Mittel zur Verfügung, mit denen die rechte Tasche gefüllt werden könnte. Früher als andere Länder haben die Deutschen mit der systematischen Umverteilung von Einkommen begonnen. Früher als andere spüren sie deshalb heute die lähmenden Konsequenzen. An zehn Punkten kann das Problem verdeutlicht werden.
Das DDR-Syndrom
Der Staatsanteil am Nettoinlandsprodukt, der Summe aller in Deutschland verdienten Einkommen, lag im Jahr 2003 bereits bei 57,4 Prozent. Mehr als die Hälfte aller in Deutschland erzeugten Werte beschlagnahmt der Staat bei denen, die diese Werte erzeugen, und stellt sie dann anderen wieder zur Verfügung, entweder als geldmäßige Ansprüche oder als Sachleistungen. Wenn auf einer Skala von null bis hundert null die reine Marktwirtschaft und hundert der reine Kommunismus ist, liegt Deutschland heute dem Kommunismus schon näher als der Marktwirtschaft. "DDR light" hat Arnulf Baring dazu gesagt. Wenn diese Assoziation nicht zur Staatsräson paßt, müssen wir entweder die Staatsräson ändern und zulassen, daß sich SPD und CDU/CSU programmatisch in Richtung PDS bewegen, oder wir müssen die Zahlenverhältnisse ändern, was im Zweifel der bessere Weg wäre.
Lokomotive des Nullwachstums
Im Jahr 1970, als die sozialliberale Koalition gerade einmal loslegte, betrug der Staatsanteil an den in Deutschland verdienten Einkommen 44,0 Prozent (Nettoinlandsprodukt). Damals mußte man noch selbst arbeiten, wenn man zu Geld kommen wollte, und das taten die Deutschen. Die Zahl der Arbeitslosen lag bei nur 150 000, und Deutschland wuchs mit atemberaubender Geschwindigkeit, so schnell, daß es die Lokomotive des europäischen Geleitzuges war. Heute sind wir das Schlußlicht. Seit 1995 ist kein Land in West- und Mitteleuropa so langsam gewachsen wie wir. Man muß schon nach Rumänien oder Bulgarien gehen, um eine niedrigere Wachstumsrate zu finden. Für die Misere ist auch der wachsende Staat verantwortlich, der den Bürgern die Selbstverantwortung für ihr Schicksal genommen hat und ihre Aktivitäten erstickt.
Sozialweltmeister
Deutschland hat mit nur 12 Prozent der abhängig Beschäftigten im internationalen Vergleich extrem wenige Staatsdiener, dafür hat es aber ein ausuferndes Sozialbudget, das rund 35 Prozent der in Deutschland verdienten Einkommen absorbiert. Mit dieser Quote wird Deutschland außer von Schweden von keinem anderen EU-Land übertroffen. Deutschland bezahlt in Relation zur Bevölkerung nicht einmal halb so viele Staatsdiener wie Schweden. Statt dessen gibt unser Land besonders viel für soziale Leistungen aus. Bei seinen Zahlungen an Rentner, Pensionäre, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Studenten, Kriegsopfer, Behinderte und Kranke ist Deutschland wahrscheinlich Weltmeister. In Westdeutschland erhalten 38 Prozent der wahlberechtigten Bürger ihr hauptsächliches Einkommen als Sozialtransfers vom Staat, die mitfinanzierten Familienmitglieder noch nicht gerechnet, und in den neuen Bundesländern sind es 47 Prozent. Der Durchschnitt beider Landesteile liegt bei 41 Prozent. Die Anteile werden sich schon wegen der demographischen Krise des Landes in den nächsten beiden Jahrzehnten deutlich erhöhen. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland steht kurz vor dem Umkippen. Angesichts der Alterung der Bevölkerung ist der Tag nicht fern, an dem die Mehrheit der erwachsenen Bürger unmittelbar von Einkommen lebt, das andere erwirtschaften.
Arbeiten lohnt sich nicht
Die Lasten sind schon heute kaum noch zu tragen. Nirgendwo sonst hat der durchschnittliche Arbeitnehmer eine so hohe Grenzabgabenlast zu tragen wie in Deutschland: Selbst Schweden und Dänemark kommen nicht an die 63,8 Prozent heran, die trotz der Steuerreform im nächsten Jahr anfallen werden. Ein Beispiel kann die Absurdität dieser Verhältnisse beleuchten: Ein durchschnittlich verdienender Malergeselle mit zwei Kindern, dessen Frau ein Drittel hinzuverdient, erklärt sich bereit, etwas länger zu arbeiten und ein zusätzliches Zimmer anzumalen. Der Chef stellt dem Kunden eine Rechnung, auf der neben Anfahrt, Farbe, Pinsel und so weiter 1000 Euro für die reinen Arbeitskosten inklusive Steuern ausgewiesen sind. Von diesen 1000 Euro fließen nur 362 Euro an den Gesellen. Der Rest, 638 Euro, fließt als Mehrwertsteuer, Arbeitgeber- und Arbeitnehmersozialabgaben sowie persönliche Einkommensteuer an den Staat. Man stelle sich einmal vor, ein Schlosser, der in der gleichen Lebenssituation wie der Maler steht und das gleiche Einkommen verdient, möchte sich durch Mehrarbeit das Geld erarbeiten, das er braucht, um die Leistung des Maurers zu kaufen. Seine eigene Leistung muß der Schlosser für 2762 Euro an andere verkaufen, damit er die 1000 Euro für den Maler hat, die diesem ein Nettoeinkommen von 362 Euro bringen. Der Staat ist bei diesem Geschäft mit einer Einnahme von genau 2400 Euro oder 87 Prozent der Leistung des Schlossers beteiligt. Das ist absurd. Die Abgabenlast behindert die legale Tätigkeit in solch massivem Maße, daß es fast an ein Wunder grenzt, daß die Arbeitsteilung in Deutschland überhaupt noch funktioniert und nicht alles im Do-it-yourself-Verfahren oder schwarz erledigt wird.
Job-Vernichter
Der Staat ist nicht nur teuer. Schlimmer noch ist, daß er das viele Geld, das er den Bürgern aus der Tasche zieht, dafür einsetzt, der privaten Wirtschaft Konkurrenz zu machen. In Form von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Sozialhilfe oder auch Frührenten zahlt er nämlich Lohnersatz. Lohnersatz ist ein Lohn für das Nichtstun. Dieser Lohn treibt den Lohn für echte Arbeit hoch, denn keiner ist bereit, für einen Lohn zu arbeiten, der nicht hinreichend weit über dem Betrag liegt, den der Staat für das Nichtstun zahlt. Dies ist der Kern der deutschen Misere. In der Zeit der Globalisierung und der internationalen Niedriglohnkonkurrenz fällt es der Wirtschaft immer schwerer, für die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft Stellen zu definieren, deren Wertschöpfung es mit der Kaskade der staatlichen Lohnersatzleistungen aufnehmen kann. Kein Wunder, daß Deutschland OECD-Weltmeister bei der Massenarbeitslosigkeit unter den gering Qualifizierten ist. Zwischen der Niedriglohnkonkurrenz auf den Absatzmärkten der Welt und der Hochlohnkonkurrenz des Sozialstaates zu Hause wird die deutsche Wirtschaft allmählich zerrieben.
Einen Ausweg aus dem Dilemma bietet die Aktivierende Sozialhilfe des Ifo-Instituts. Die Grundidee hierbei ist, daß der Staat vom Konkurrenten zum Partner wird. Das staatliche Geld gibt es vornehmlich für das Mitmachen und nicht für das Nichtstun. Dadurch wächst die Bereitschaft, zu niedrigeren Löhnen zu arbeiten. Zu niedrigeren Löhnen überschreitet ein immer größerer Teil der Stellen, die in den Köpfen der Arbeitgeber existieren, die Rentabilitätsschwelle und wird realisiert.
Das Arbeitslosengeld II hat im Einkommensbereich von 50 Euro bis 400 Euro einen Transferentzug von 85 Prozent. Das wird viele der bisherigen Arbeitslosenhilfebezieher, die bislang mindestens 165 Euro ohne Abzüge hinzu verdienen durften, veranlassen, ihre Minijobs aufzugeben. Die Aktivierende Sozialhilfe vermeidet dieses Problem, weil die Hinzuverdienstmöglichkeiten dramatisch verbessert werden, so daß die Bereitschaft, gering bezahlte Stellen anzunehmen, sehr stark anwächst - im Vergleich zur heutigen Sozialhilfe und im Vergleich zum Arbeitslosengeld II. Allerdings wird, um höhere fiskalische Lasten zu vermeiden, das Transfereinkommen, das man ohne Arbeit erhält, um etwa ein Drittel gekürzt. Per saldo werden die weniger leistungsfähigen Mitglieder der Gesellschaft ein höheres Gesamteinkommen verdienen als sie bei der durch das Arbeitslosengeld II induzierten Untätigkeit erwarten können. Es ist auch Sorge getragen, daß keiner durch den Rost fallen kann. Wer trotz der neuen Jobs keine Anstellung findet, kann weiterhin die heutige Sozialhilfe beziehen, muß aber dafür acht Stunden am Tag der Kommune für ein Leiharbeitsverhältnis zur Verfügung stehen.
Eichels Nöte
Der Sozialstaat ist verantwortlich für die Immigration in die Arbeitslosigkeit, die wir nun schon dreißig Jahre lang beobachten konnten. Die Zuwanderer werden von den hohen Löhnen für einfache Arbeit angelockt, die die Lohnkonkurrenz des Sozialstaates bewirkt, doch werden ihnen keine neuen Stellen zur Verfügung gestellt, weil die dafür notwendige Absenkung der Löhne für einfache Arbeit nicht stattfinden kann. Deshalb besetzen die Zuwanderer die Stellen, die die Einheimischen für sie frei machen. Die deutschen Arbeiter ziehen es vor, in dem Sessel Platz zu nehmen, den der Sozialstaat für sie bereithält, anstatt sich auf eine Niedriglohnkonkurrenz mit den Zuwanderern einzulassen. Von 1970 bis 2002 hat sich der Bestand an Zuwanderern auf dem ersten Arbeitsmarkt um 3,1 Millionen Personen erhöht, und die Zunahme der Arbeitslosigkeit unter den Einheimischen lag bei 3,2 Millionen. Die Sozialtransfers haben zu einem ganz und gar unsinnigen Migrationsmuster geführt. Die Zuwandernden haben zu Hause aufgehört zu produzieren, und hier gab es nur ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, bei dem der Wertschöpfungstopf nicht voller wurde, obwohl Heerscharen neuer Menschen aus ihm ernährt werden mußten. Auch das erklärt die Nöte von Herrn Eichel. Nur eine Reform nach der Art der Aktivierenden Sozialhilfe kann diesen Unsinn beenden. Sie macht es möglich, daß die Löhne für einfache Arbeit fallen, ohne daß dabei Einkommensverluste für die Betroffenen entstehen, und vor allem schafft sie neue Stellen für die neuen Menschen, die sich vor den Werktoren versammeln.
Wo das Geld versickert
Indem der westdeutsche Sozialstaat den neuen Bundesländern übergestülpt wurde, ist dort die größte Transferökonomie aller Zeiten entstanden. Das Leistungsbilanzdefizit, also der Überhang des Gesamtverbrauchs an Waren und Dienstleistungen seitens des Staates, der Investoren und der Konsumenten, liegt bei 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Jeder dritte Euro, der in den neuen Ländern ausgegeben wird, kommt aus dem Westen, und von diesem dritten Euro sind 75 Cent geschenkt und 25 Cent geliehen. 1,025 Billionen Euro werden die Nettotransfers in die neuen Länder bis zum Jahresende betragen. 85 Milliarden Euro fließen Jahr für Jahr über die öffentlichen Kassen in den Osten, sei es durch den Länderfinanzausgleich, die Rentenkasse, die Arbeitslosenversicherung, die Bundesausgaben oder die Transfersysteme der Krankenkassen. Etwa 40 Milliarden davon sind Sozialtransfers, also in erster Linie Geld, das unter der Bedingung des Nichtstuns ausgezahlt wird und das den Staat deshalb auf dem Arbeitsmarkt zum Konkurrenten der Wirtschaft macht. Es war von Anfang an unmöglich, daß die Wirtschaft unter diesen Bedingungen gesunden konnte, und es ist kein Wunder, daß sie es nicht tat. Seit Mitte der neunziger Jahre driften die beiden Landesteile bei der Wirtschaftsleistung auseinander anstatt zusammenzuwachsen. Das Bruttoinlandsprodukt je Person im erwerbsfähigen Alter lag 1996 schon einmal bei 61 Prozent des Westniveaus. Bis heute ist es auf 59 Prozent gefallen. Dennoch sind bis 2002 die Haushaltsnettoeinkommen in den neuen Ländern nominal schon bei 83 Prozent und real bei 91 Prozent angekommen. Die gesetzlichen Renten pro Rentenbezieher lagen Ende 2003 sogar nominal bei 115 Prozent und real bei etwa 125 Prozent des Westniveaus.
Windkraft und andere Irrtümer
Der Transferunsinn erstreckt sich auch auf Unternehmenssubventionen, die allzu häufig unter einem sozialen Vorwand gefordert werden. Für die Kohle werden jedes Jahr immer noch so viele Subventionen gezahlt, daß man davon die Kumpels ganzjährig auf Urlaub nach Mallorca schicken könnte. Aber um das soziale Schicksal der Kumpels geht es dabei schon lange nicht mehr, denn heute sind die Enkel derjenigen auf der Zeche, deretwegen man in den sechziger Jahren damit begann, die Kohle zu subventionieren. Die Subventionen ziehen Generation nach Generation in eine schon lange nicht mehr konkurrenzfähige Wirtschaft und tragen zum deutschen Niedergang bei.
In den neuen Bundesländern hat man den anfänglichen Wirtschaftsaufschwung bis zum Ende des Jahres 1996 durch das Fördergebietsgesetz erzwungen, um eine rasche Angleichung der Lebensverhältnisse zu bewirken. Aber man hat die Wirtschaft damit veranlaßt, sich in die falsche Richtung zu entwickeln. Da die Subventionen nur den Faktor Kapital, nicht aber die Arbeit verbilligten, wurde viel zu viel Kraft in den Wohnungsbau gesteckt, und im verarbeitenden Gewerbe wurden Werkhallen für Roboter statt für Menschen geschaffen. Die Massenarbeitslosigkeit und das nun schon sieben Jahre dauernde Auseinanderdriften der Wirtschaftsleistung der beiden Landesteile sind die unmittelbare Konsequenz. Und man denke nur an die aus einem transformierten Kohlepfennig gespeisten Subventionen der Windkraftanlagen, die derzeit die deutschen Landschaften insbesondere in Norddeutschland flächendeckend verschandeln. Damit wird Strom produziert, dessen volkswirtschaftliche Kosten weit über den Kosten liegen, zu denen man Strom international kaufen kann. Diese Subvention ist noch nicht einmal im Staatshaushalt verzeichnet, weil sie direkt von den Stromunternehmen per Zwangsabgabe weitergeleitet wird.
Die Liste des Unsinns läßt sich beliebig fortsetzen: Überall veranlassen die Subventionen die Unternehmen, Kraft aufzuwenden, um ihr Geld vom Staat zu bekommen, anstatt sich dieses Geld durch den Verkauf ihrer Produkte von den Kunden zu holen. Bis auf wenige wohlbegründete Ausnahmen im Forschungsbereich und bei der Startfinanzierung hochwertiger Technologien sind sie volkswirtschaftlich nicht zu rechtfertigen.
Kein Geld für Bildung
Obwohl der Staat zu groß ist, gibt er zu wenig Geld für die Bildung aus. Mit nur 4,3 Prozent Anteil öffentlicher Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt beziehungsweise 5,1 Prozent am Nettoinlandsprodukt liegen wir deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Selbst in den USA, wo das Bildungssystem großenteils privat finanziert wird, ist der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben größer als in Deutschland. Seit der sozialliberalen Koalition, die die Sozialausgaben in die Höhe katapultiert und Deutschland mit einem Netz neuer Billiguniversitäten überzogen hat, geht die Reise bergab. Die deutsche Forschung verliert den Anschluß an die Weltelite, und der deutsche Turm von PISA droht zu kippen. Nicht einmal mehr Mittelmaß sind die deutschen Schüler, die an den Vergleichstests der OECD teilnahmen. Ein Land, das sieben Mal so viel Mittel für Sozialtransfers wie für Bildung ausgibt, investiert sieben Mal mehr in die Vergangenheit als in die Zukunft.
Renten-Teufelskreis
Das bei weitem größte Transfervolumen entfällt in Deutschland auf die gesetzlichen Rentenversicherungen. Die Altersleistungen für Arbeiter, Angestellte, Bergleute und Landwirte absorbieren bereits 12,8 Prozent aller in Deutschland verdienten Einkommen. Hinzu kommen noch einmal 2,3 Prozent für die Pensionen der Beamten. Wegen der fehlenden Kapitaldeckung lebt die staatliche Alterssicherung von der Hand in den Mund. Die arbeitende Generation muß die Renten ihrer Eltern aus ihrem laufenden Einkommen finanzieren, und sie erwirbt damit einen Rechtsanspruch gegen nachfolgende Generationen. Dieser Rechtsanspruch ist eine implizite Staatsschuld und steht auf ähnlicher Stufe wie die explizite Schuld, die durch Staatsschuldtitel verbrieft ist. Die implizite Staatsschuld liegt nach einer Rechnung des Sachverständigenrates für das Basisjahr 2002 bereits bei 270 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, so daß zusammen mit der offenen Staatsschuld über 330 Prozent Schuldenquote für Deutschland herauskommen. Das ist ein Wert, von dem man hoffen muß, daß ihn die Italiener, über deren Schulden wir uns aufregen, nie erfahren.
In ihrem Kern ist die Rentenversicherung eine Versicherung gegen Kinderlosigkeit, denn auch wer selbst keine Kinder hat, wird im Alter von den Kindern anderer Leute ernährt. Das ist im Prinzip eine gute Idee, aber wie immer bei einer Versicherung erlahmt unter ihrem Schutz die Anstrengung zur Verminderung der versicherten Gefahr. Konkret ist in Deutschland unter dem Schutze der gesetzlichen Rentenversicherung der Anreiz zum Kinderkriegen erlahmt. Unter allen OECD-Ländern sind wir das Land mit der geringsten Geburtenrate pro 1000 Einwohner. Für die eigene Rente braucht man keine Kinder. Es reicht, wenn die Nachbarn welche bekommen. Das ist heute die Devise der Deutschen, und das ist eine der wesentlichen Ursachen der Rentenkrise. Früher als andere haben die Deutschen die Rentenversicherung eingeführt, früher als andere haben sie ihr regeneratives Verhalten geändert. Die Rentenversicherung leidet unter den demographischen Problemen, die sie selbst hervorgebracht hat.
Die Bevölkerung in Deutschland altert schneller als die Bevölkerung fast aller Länder dieser Erde. In dreißig Jahren gibt es mehr dreißigjährige Franzosen als dreißigjährige Deutsche, obwohl Frankreich derzeit noch viel weniger Einwohner hat. Unsere Bevölkerung schrumpft alle fünfzig Jahre um ein Viertel. Das Land, das den Sozialstaat erfunden hat, leidet früher und intensiver unter der Krankheit, die er verursacht hat. Es muß nun den Überlebenskampf führen. Wenn er gelingt, kann unser Land auf eine fünfte große Errungenschaft verweisen, mit der wir die Welt beglücken.