Ein Glossar zur Basar-Ökonomie, zur Verlängerung der Arbeitszeit und der fehlenden Nachfrage
Von Hans-Werner Sinn
Die Gegner der Reformen sind in die Defensive geraten, aber sie wehren sich heftig, indem sie die Protagonisten der Reformen als Schwarzmaler titulieren. Hier ein Glossar ihrer Argumente nebst einer Erwiderung.
1. Uns geht es gut. Die Behauptung, Deutschlands Wirtschaft hätte ein Problem, ist aus der Luft gegriffen.
Deutschland hat Massenarbeitslosigkeit und ist das Land Mittel- und Westeuropas, das seit 1995 mit Abstand am langsamsten wuchs. Wir sind Schlusslicht.
2. Das langsame Wachstum ist eine kaum vermeidbare Implikation der deutschen Vereinigung.
Wenn die neuen Länder zum Westen aufschließen, muss Gesamtdeutschland schneller wachsen, nicht langsamer. Selbst Westdeutschland für sich genommen ist seit 1995 langsamer gewachsen als jedes andere Land in Mittel- und Westeuropa, und Ostdeutschland wuchs noch langsamer. Wer in andere europäische Länder wie etwa das beim Sozialprodukt angeblich führende Irland oder Finnland reist, sieht mit bloßen Augen, dass die Wirtschaft noch nicht so entwickelt ist wie die deutsche. Was man sieht, ist der Kapitalstock in Form von Immobilien, der aus dem Sozialprodukt vergangener Jahrzehnte aufgebaut wurde. Die Statistik von heute zeigt das Deutschland von morgen.
3. Beweisen nicht die Rekordgewinne der Unternehmen wie Siemens, Eon oder BASF, dass die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig ist?
Nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, sondern die der Arbeiter ist das Problem. Die Unternehmen retten sich meist durch eine Produktionsverlagerung in Niedriglohnländer (¸¸Basar-Effekt"). Dort entstehen die Gewinne, mit denen sie die inländischen Verluste abdecken. Wer nicht ins Ausland geht, hat Probleme. Mit 30000 Pleiten pro Monat hat Westdeutschland gerade die Rekordmarke überschritten.
4. Zeigen nicht die Daten des Statistischen Bundesamtes, dass Deutschland keine Basar-Ökonomie ist und dass noch genügend Wertschöpfung stattfindet?
Nach diesen Daten führt ein zusätzlicher Euro Export postwendend zu 55 Cent an Importen. Dennoch steigt die Wertschöpfung im Export wie in jedem Land, das sich spezialisiert. Aber sie fällt in anderen Sektoren zu schnell. Der Nettoeffekt wird durch die Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts gemessen, und die ist die niedrigste weit und breit.
5. Ist Deutschland nicht Exportweltmeister?
Nein, wir waren im Jahr 2004 hinter den USA Vize. Weltmeister sind wir nur, wenn man den Export von Dienstleistungen abzieht. Zur Exportstärke trägt die Aufwertung des Euro bei, durch die selbst die deutschen Exporte in den Euroraum bei der Umrechnung in Dollar vergrößert werden. Außerdem werden die Exporte durch den Basar-Effekt aufgebläht. Ein Prozent Zunahme der Wertschöpfung im Export erhöht das Exportvolumen um 1,36 Prozent.
6. Aber wir haben einen Rekordüberschuss in der Leistungsbilanz. Beweist das nicht die Wettbewerbsfähigkeit?
Definitionsgemäß ist dieser Überschuss ein Maß für den Kapitalexport Deutschlands. Die Ersparnisse, die in Deutschland nicht in Investitionen umgesetzt werden, fließen als Kredite ins Ausland, und Ausländer kaufen dafür Waren in Deutschland. Besser wäre es, die Ersparnisse würden zu inländischen Investoren fließen, die damit Bauleistungen oder Maschinen in Deutschland kaufen, denn dann würden hier neue Arbeitsplätze entstehen.
7. Länger zu arbeiten bringt nichts. Inklusive der Überstunden arbeiten wir ohnehin schon 42,5 Stunden.
Der Durchschnitt der tariflichen Arbeitszeit liegt bei 38 Stunden. Es kommt darauf an, bei gleichem Lohn länger zu arbeiten. Entlohnte Mehrarbeit bringt den Unternehmen keine Entlastung.
8. Wenn länger gearbeitet wird, werden nur noch mehr Menschen entlassen.
Die Verkürzung der Arbeitszeit in Deutschland hat nachweislich zur Zunahme der Massenarbeitslosigkeit beigetragen. Einen festen Arbeitskuchen gibt es nicht. Wenn die Menschen pro Tag länger arbeiten, arbeitet auch der Kapitalstock (Gebäude und Maschinen) länger. Es gibt einen sofortigen Wachstumsschub, im zweiten Schritt werden die Unternehmen mehr Leute einstellen, weil es Menschen gibt, die erst nach der Verlängerung der Arbeitszeit so viel erzeugen, wie sie kosten.
9. Statt länger zu arbeiten, brauchen wir technischen Fortschritt, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Deshalb muss der Staat die Innovationen fördern.
Die Verlängerung der Arbeitszeit wirkt wie technischer Fortschritt, der die Produktivität von Menschen und Kapital vergrößert. Gegen die Förderung von Grundlagenforschung spricht nichts. Nur wirkt Arbeitszeitverlängerung viel schneller.
10. Wer soll die zusätzlichen Produkte kaufen, wenn länger gearbeitet wird und keiner zusätzlich Geld verdient?
Die Unternehmen verdienen sehr wohl zusätzliches Geld. Die Steigerung der Gewinne und damit die Zunahme der Kaufkraft der Unternehmer sind bis auf den letzten Cent identisch zum Wert der Mehrproduktion. Die Unternehmer werden das Geld nicht horten, sondern selbst für den Kauf von Investitionsgütern ausgeben oder anderen leihen, die es dann für den Kauf solcher Güter ausgeben.
11. In den neuen Bundesländern gibt es viele Arbeitslose, obwohl die Löhne noch viel niedriger sind als im Westen. Beweist das nicht, dass Nachfrage fehlt?
In den neuen Ländern sind die Löhne viel schneller gewachsen als die Produktivität. Die Nachfrage übersteigt die eigene Erzeugung dank der riesigen staatlichen Transfers und dank eines gewissen Zustroms an Finanzkapital um bald die Hälfte. Noch nie hat es eine Großregion gegeben, in der es einen ähnlich großen Nachfrageüberhang gab.
12. Die Wirtschaftspessimisten sind wegen der schlechten Stimmung, die sie verbreiten, selbst am Verlust der Arbeitsplätze schuld.
Wenn der Patient der Operation zustimmen soll, muss man ihm die Wahrheit sagen, auch wenn das seine Stimmung vermiest. Opium sollte man nur geben, wenn alles hoffnungslos ist.
Professor Hans-Werner Sinn ist Präsident des Konjunkturforschungs-Instituts Ifo in München.