deutsche-wirtschafts-nachrichten.de, 08.08.2016
„Ich vertraue den Stress-Tests der EZB nicht“, sagt Hans-Werner Sinn, emeritierter Professor am Ifo-Institut, im Gespräch mit den Deutschen Wirtschafts Nachrichten. „Die Stressszenarien sind milde und die Banken tricksen durch Wertansätze für notleidende Kreditforderungen, die der Realität nicht entsprechen. Die Eigenkapitaldecke der europäischen Banken ist viel zu klein.“ Regelwidrige Bail-Outs hätten die EU bereits unglaubwürdig gemacht. Am Ende werde immer der Steuerzahler herangezogen – und sei es auch nur versteckt durch die Aktionen der EZB. Und das, obwohl vor kurzem mit der Bankenrichtlinie das genaue Gegenteil beschlossen worden sei.
So scheint die EU von Krise zu Krise zu stolpern. In Italien sitzen die Banken – offiziell – auf faulen Krediten im Wert von 360 Milliarden Euro. Die älteste Bank der Welt, die Monte dei Paschi di Siena, hat beim jüngsten Stresstest durch die EZB am schlechtesten abgeschnitten. Sie wurde erst in letzter Minute durch ein Bankenkonsortium scheinbar gerettet. Dabei haben die italienischen Banken gar nicht so sehr mit Derivaten spekuliert wie etwa die Deutsche Bank oder die BNB Paribas. Ihr Problem ist vielmehr die stagnierende italienische Wirtschaft. Zahlreiche Betriebe können in diesem Umfeld ihre Kredite nicht zurückzahlen. Viele geben dem Euro die Schuld an der Misere des Landes.
Hans-Werner Sinn sieht dies ähnlich: „Italien hat seit der Ankündigung des Euro auf dem Gipfel von Madrid relativ zu Deutschland real um 45 Prozent aufgewertet. Der billige Kredit, den der Euro mit sich brachte, hat es dem Land ermöglicht, seine Inflation aufrecht zu erhalten, obwohl das im Euro eine allmählich wegbrechende Wettbewerbsfähigkeit bedeutete. Ohne den Euro hätte es die italienische Kreditblase nicht gegeben. Italien könnte heute abwerten und über Nacht wettbewerbsfähig werden.“ Aber nicht nur für Italien sei der Euro ein Problem. Auch Deutschland verkaufe seine Exporte größtenteils per Bundesbank-Kredit und müsse befürchten, dass die Bundesbank ihr Geld niemals zurückbekäme, sollte der Euro einmal als Währung verschwinden. Südeuropa stecke in einer fundamentalen Wettbewerbskrise, weil es durch den Euro zu teuer geworden sei. So sei es in der Marktwirtschaft: Wenn die relativen Preise verzerrt werden, komme es zu gewaltige Effizienzverlusten, die am Ende allen schaden.
Kritiker werfen Deutschland Lohn-Dumping vor. Die Folge sei, dass die Industrie in den anderen Ländern der Euro- Zone „platt gemacht“ würde. Hans-Werner Sinn widerspricht: „Das ist so nicht richtig, weil Deutschland seine Löhne nicht gesenkt hat. Es hat sie nur nicht so schnell erhöht wie die anderen. Wir haben uns an das Ziel der Preisniveaustabilität gehalten, die anderen nicht.“ Preise in der Marktwirtschaft sollten Gleichgewichtspreise sein: „Wenn sie zu hoch sind, ist es schlecht, und wenn sie zu niedrig sind, auch. Eine ständige Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Sinne eines fortwährenden Lohnverzichts oder einer fortwährenden Deflation zu fordern, ist nicht sinnvoll. Nur, wenn man zu hoch liegt, muss man runter auf das Wettbewerbsniveau. Das lässt sich nicht vermeiden.“
Tatsächlich gerät die Euro-Zone immer mehr in Schieflage. Seit Jahren wird der Euro permanent „gerettet“. Die Maastricht-Kriterien und der Fiskalpakt wurden ignoriert. Und jetzt wollen viele die Flucht nach vorn antreten: Sie fordern noch „mehr Europa“. „Wer so redet, hat die Zeichen der Zeit nicht verstanden. Selbst Helmut Kohl sagt, dass wir erst einmal einen Schritt zurückgehen müssen, bevor wir wieder vorangehen können. Wenn die Richtung nicht stimmt, sollte man den Schritt nicht beschleunigen, sondern innehalten und sich besser überlegen, wohin man geht“, so Sinn. Sollte ein kleiner Resthaufen von Ländern, beispielsweise den meisten Euroländern, trotzdem „mehr Europa“ durchsetzen wollen, würde das die Spaltung Europas noch vertiefen.
Wird also die EU durch den Euro in eine immer tiefere Krise getrieben? Der französische Ökonom Jacques Sapir soll ausgerechnet haben, das Deutschland Transferzahlungen von 230 Milliarden Euro pro Jahr leisten müsste – und das über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren – um die Euro-Zone unter den gegebenen Umständen am Leben zu erhalten. Das wären in etwa 75 Prozent des Bundeshaushalts. Hans-Werner Sinn kennt diese Berechnung nicht, aber: „Wundern täte mich das Ergebnis nicht, auch wenn mir die Zahlen etwas hoch vorkommen.“
Wie also soll es weitergehen mit der EU? Fehlt ihr eine Vision, die alle Europäer teilen können? Hierzu Hans-Werner Sinn: „Tragfähige Visionen basieren immer auf Nutzen-Kosten-Rechnungen. Erfolgreich sind Visionen nur, wenn sie allen Beteiligten tatsächlich materielle Vorteile bringen. Sonst scheitern Sie an der Realität.“
Nachzulesen bei www.deutsche-wirtschafts-nachrichten.de