Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2017, S. 19
Nun ist es wohl bald so weit. Da das britische Parlament auf sein Vetorecht verzichtet hat, wird die Regierung von Theresa May der EU ihren Austrittswunsch noch in diesem Monat formell erklären. Dann beginnt die in den EU-Verträgen für die Verhandlungen vorgesehene Frist von zwei Jahren zu laufen.
Der Austritt Großbritanniens ist ein Misstrauensvotum gegen die EU. Zu lange schon hatte man sich über die Machtanmaßung der Brüsseler Gremien erregt, die das Subsidiaritätsprinzip mit den Füßen traten und alles und jedes mit ihren Ministerratsbeschlüssen und Verordnungen regeln wollten, vom Feinstaub in den Städten über die Qualität des Trinkwassers bis hin zur Krümmung der Gurken, der Mindestlänge der Bananen, der Färbung der Äpfel, der Saugkraft der Staubsauger oder der Waschleistung der Geschirrspüler, alles Bereiche, in denen es keine grenzüberschreitenden Externalitäten gibt, die zentrale Eingriffe rechtfertigen könnten. Auch den interessengeleiteten Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, in dem die kleinen Länder genauso viel zu sagen haben wie die großen, wollte man sich nicht länger beugen.
Vor allem wollte man sich die Regeln für eine Immigration von EU-Bürgern nicht mehr von der EU vorschreiben lassen. Viele Briten sind der Meinung, dass die Massenzuwanderung ehemaliger Commonwealth-Bürger in den fünfziger und sechziger Jahren, die man erst mit dem EU-Beitritt 1973 stoppen konnte, das Land überfordert hat. Ähnliches wollte man nicht wiederholen. Premierminister Camerons Versuch, durch eine verzögerte Integration in die Sozialsysteme wenigstens die Magnetwirkung des britischen Sozialstaates zu begrenzen, ist kaltlächelnd von den EU-Eliten abgeschmettert worden. Diese Demütigung hat ganz erheblich zur Stärkung des Brexit-Lagers beigetragen.
Für die EU ist der Brexit schon deshalb eine mittlere Katastrophe, weil Großbritannien groß ist. Es handelt sich nicht um den Austritt irgendeines EU-Landes, den man hinnehmen kann, bevor man wieder zur Tagesordnung übergeht. Es geht vielmehr um die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU. Die Wirtschaftskraft des Vereinigten Königreichs ist genauso groß wie die der 20 kleinsten EU-Länder zusammengenommen. Es ist, als würden nun 20 von 28 Ländern gleichzeitig austreten.
Allein schon diese Tatsache zeigt, dass nun in der EU eigentlich kein Stein auf dem anderen bleiben kann. Die Briten haben viel berechtigte Kritik an den Organen der EU und an ihren Ordnungsregeln vorgebracht. Diese Kritik sollte man ernst nehmen und bei einer grundlegenden Reform der EU berücksichtigen. Dazu gehört auf jeden Fall eine Neuregelung der Inklusionsrechte für Migranten, um den Wohlfahrtsmagneten abzuschalten, wie auch die Neuregelung des Eurosystems. Die Unterscheidung zwischen erworbenen und ererbten Sozialansprüchen, die Einführung von Stimmrechten nach der Haftung im EZB-Rat, die Tilgung der Target-Salden, ein Konkursrecht für Staaten, Regeln für einen geordneten Euroaustritt nebst Abwertung und vieles mehr würde neu zu gestalten sein.
Für Deutschland ist der Brexit verheerend. Großbritannien ist Deutschlands drittgrößter Exportmarkt. Es ist eines von zwei Ländern der EU, die über Nuklearwaffen verfügen. Das andere, das nun noch verbleibt, gewinnt auch vor dem Hintergrund der Nato-Kritik aus Washington durch den Austritt auf dramatische Weise an politischer Macht in der EU, während Deutschland in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis gerät. Das Gleichgewicht der EU ist zerstört.
Als Außenminister Gerhard Schröder und Wirtschaftsminister Ludwig Erhard den Bundestag 1963 dazu brachten, dem Elysée-Vertrag sehr zum Ärger von Präsident De Gaulle eine Präambel voranzustellen, nach der Deutschland den Beitritt Großbritanniens zur EU anstrebe, wussten sie, was sie taten. Erst im dritten Anlauf, nach den von De Gaulle abgeblockten Versuchen von 1963 und 1967, gelang es im Jahr 1973, nach dem Tod von De Gaulle, die Briten ins Boot zu holen.
Die Zerstörung des Gleichgewichts der EU hat auch insofern eine sehr konkrete Dimension, als nun die Minderheitsregeln des Ministerrats ihren Sinn verlieren, wie sie im Lissabon-Vertrag verankert wurden und nach einer Übergangsfrist ab dem 1. April 2017 auch uneingeschränkt für Großbritannien gegolten hätten. Für die meisten Abstimmungen braucht man dort 55 Prozent der Länder und 65 Prozent der dahinter stehenden Bevölkerung, was umgekehrt bedeutet, dass Länder, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung auf sich vereinen, eine Sperrminorität haben. Zusammen mit Großbritannien hat der ehemalige "D-Mark-Block" (Deutschland, Niederlande, Österreich und Finnland) einen Bevölkerungsanteil von 35 Prozent, also gerade die Sperrminorität. Das sind allesamt Länder, die sich dem Freihandel verschrieben haben. Gleichzeitig haben die eher staatsgläubigen Anrainer des Mittelmeers, denen man wegen der Schwäche der eigenen Industrien protektionistische Attitüden unterstellen kann, mit 36 Prozent der EU-Bevölkerung ebenfalls die Sperrminorität. Diese im Lissabon-Vertrag angestrebte Balance ist nun zerstört, denn der erste Block schrumpft mit dem Brexit auf einen Bevölkerungsanteil von 25 Prozent, und die Mittelmeerstaaten erhöhen ihren Anteil auf 42 Prozent, weit mehr, als für die Sperrminorität erforderlich ist. Sie können und werden jetzt durchregieren und Europa in eine Handelsfestung verwandeln.
Es wundert nicht, dass der wohl aussichtsreichste französische Präsidentschaftskandidat, Emmanuel Macron, bereits gefordert hat, den Drohungen von Donald Trump mit einem eigenen europäischen Protektionismus zu begegnen. Solche Forderungen liegen in der Tradition der Franzosen. Der Verlierer des US-französischen Wettlaufs beim Bau der Handelsfestungen wird Deutschland sein, denn das deutsche Geschäftsmodell ist der Welthandel. Der Anteil des deutschen Exports, der nicht in die Länder geht, die heute zur Eurozone gehören, ist selbst nach der Ankündigung und Einführung des Euros rapide gestiegen.
Die Aushöhlung des Minderheitenschutzes im Ministerrat verlangt eine Neuverhandlung der EU-Verträge, wenn nicht eine deutsche Änderungskündigung. Diese Neuverhandlung kann Deutschland nicht schaffen, wenn die Verhandlungen mit Großbritannien abgeschlossen sind, sondern nur, wenn es seine Forderungen zeitgleich auf den Tisch legt und in ein gemeinsames Paket einbringt, das zugleich die Binnenverhältnisse der EU und das Außenverhältnis mit Großbritannien regelt. Das Eisen lässt sich nur schmieden, wenn es heiß ist. Ist Großbritannien erst einmal draußen, hat Deutschland keine Chance mehr, eine langfristig tragfähige Struktur der Entscheidungsregeln der EU zu erreichen. Wo sind die Politiker, die statt der restlichen Monate bis zum September die nächsten Jahrzehnte im Auge haben und bereit sind, endlich einmal wieder eine langfristig-strukturelle, von den Notwendigkeiten des Tages befreite Politik zu betreiben? In stürmischen Zeiten bedarf es auch schon mal mutiger und fachkundiger Manöver der Führung. Wer immer nur geradeaus fährt, wird am Ende Schiffbruch erleiden.
Deutschland sollte sich angesichts dieser Sachlage nicht den Wünschen der EU-Kommission fügen und aufhören, die europäische Einigung weiterhin mit zwei Geschwindigkeiten voranzutreiben. Das war der bisherige Ansatz, der mit dem Euro und dem Schengen-Abkommen verfolgt wurde. Er hat Europa zutiefst gespalten. Verfolgt man ihn auch weiterhin, wird nach Großbritannien nicht nur Polen ins Abseits gedrängt, sondern letztlich auch Dänemark, Schweden, Tschechien und Ungarn. Wer nun speziell der Eurozone als Reaktion auf den Brexit zu mehr Staatlichkeit verhelfen will, spaltet den Norden und Osten ab, zieht eine Trennlinie quer durch Mitteleuropa und macht Deutschland zum Anhängsel und Zahlmeister einer neuen lateinischen Münzunion.
Dass Frankreich die zwei Geschwindigkeiten will, wundert nicht. Die Spaltung Mitteleuropas ist seit Richelieu ein zentrales Ziel der Politik dieses Landes. Die deutschen Interessen liegen in diesem Punkte aber anders. Macron schlägt den Franzosen ein Programm vor, das ihnen selbst Entbehrungen erspart, und sucht stattdessen mit Deutschland den Schulterschluss für ein gemeinsames Eurobudget, Eurobonds, eine gemeinsame Einlagensicherung und eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung. Darauf sollte Deutschland nicht eingehen.
Statt sich mit Frankreich gemeinzumachen und eine Strafaktion für Großbritannien vorzubereiten, täte Deutschland vielmehr gut daran, von den Plänen für eine weitere Vertiefung der EU Abstand zu nehmen und eine Vermittlerrolle bei den Brexit-Verhandlungen einzunehmen, die letztlich darauf hinausläuft, dem britischen Wunsch nach einer Fortsetzung des Freihandels trotz einer Beschränkung der Freizügigkeit zu folgen. Freihandel ist nämlich kein Geschenk für andere, sondern hilft allen beteiligten Ländern.
Der Vorteil des Freihandels ist sogar besonders stark, wenn Arbeitskräfte nicht wandern können. Die EU sagt, es dürfe kein Rosinenpicken geben. Freihandel könne es nur zusammen mit einer Freizügigkeit für Arbeitskräfte geben. Das ist aus ökonomischer Sicht Unfug, denn gerade dann, wenn die Menschen nicht wandern können, sind die allseitigen Gewinne aus dem Freihandel besonders groß. Ohne Wanderungen ergeben sich nämlich größere Abweichungen zwischen den Lohnstrukturen der Länder als mit Wanderungen, und je größer diese Abweichungen sind, desto größer sind die Abweichungen der Preisrelationen für die produzierten Güter, die selbst wiederum die Quelle der Handelsgewinne sind. Auch aus politischer Sicht kann es nicht im deutschen Interesse liegen, die Briten abzustrafen, denn damit beraubt sich Deutschland der eigenen Exit-Option und macht sich erpressbar.
Es gibt zwei Modelle für eine Föderation. Das erste Modell ist durch einen starken Minderheitenschutz und die Freiwilligkeit der Kooperation gekennzeichnet. Es werden nur sachdienliche Entscheidungen getroffen, die mindestens einigen Mitgliedern nützen, doch niemandem schaden, die also quasi den Kuchen vergrößern, der für alle zusammen zur Verfügung steht. Dieses Modell ist stabil, weil jeder dabei gerne mitmacht. Das zweite Modell basiert auf mehrheitlichen Entscheidungen ohne einen starken Minderheitenschutz. In ihm werden auch Umverteilungsmaßnahmen entschieden, die einer Mehrheit nützen, jedoch einer Minderheit schaden, und zwar selbst dann, wenn die Mehrheit weniger gewinnt, als die Minderheit verliert, der Kuchen also schrumpft. Dieses Modell erzeugt Verlierer, die lieber austreten wollen, und ist deshalb inhärent instabil. Zur Verhinderung der Austritte braucht es Strafen.
Deutschland sollte sicherlich nicht aus der EU austreten, denn im Gegensatz zum Euro hat sich diese Staatengemeinschaft bislang als segensreiche Einrichtung für Europa gezeigt. Damit das so bleibt, ist es wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die Umverteiler in Brüssel und im Umfeld von Macron sich stets bewusst bleiben, dass sie es nicht übertreiben dürfen. Auch deshalb muss für Großbritannien eine befriedigende Lösung gefunden werden, die notfalls auch anderen zur Verfügung steht. Im Übrigen bleiben die Briten so oder so auf immer unsere Nachbarn, und mit seinen Nachbarn sollte man anständig umgehen.
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