Migration in Europa: Zu viel des Guten?

Internetartikel von John Driffill und Hans-Werner Sinn, www.oekonomenstimme.org, 10.03.2015

In vielen Ländern Europas wird Stimmung gemacht gegen die Einwanderung. Der Aufstieg von einwanderungskritischen Parteien über das gesamte politische Spektrum hinweg zwingt europäische Regierungen ihre Haltung zu verhärten. Gleichzeitig ist in der EU die Personenfreizügigkeit ein unverletzbares Prinzip. Dieser Beitrag macht einen Vorschlag, wie sich verzerrende Auswirkungen des Sozialstaates auf die Migration vermeiden lassen, ohne die Freizügigkeit aufs Spiel zu setzen.

Ein anderes Trilemma

Es ist eine europäische Ironie, dass zur Stützung der Währungsunion zwar zu wenig, für soziale Harmonie aber zu viel Arbeitskräftemobilität vorliegt.[ 1 ] Die EU verfolgt drei nicht miteinander zu vereinbarende Ziele: Personenfreizügigkeit; das Sozialstaatsprinzip sowie die Inklusion ausländischer Migranten in den Sozialstaat. Sie kann mindestens eines der Ziele nicht vollauf erreichen.

Die Krise dauert an, die Arbeitslosigkeit bleibt auf hohem Niveau, und Realeinkommen gehen zurück. Gleichzeitig wächst die Angst, dass Einwanderung aus einkommensschwachen Mitgliedstaaten Jobs und Löhne gefährdet, den Wohnungsmarkt und die öffentliche Infrastruktur unter Druck setzt und die Belastung für den Sozialstaat erhöht. Einwanderungskritische Parteien am Rande des politischen Spektrums nehmen der bürgerlichen Mitte Wählerstimmen weg und erzwingen eine härtere Haltung gegenüber der Einwanderung.

Größere Mobilität

Die Beziehung zwischen Migration und der Einstellung dazu ist komplex. Eurostat veröffentlicht eine "Rohziffer des Migrationssaldos" (siehe Abbildung 1), die das tatsächliche Bevölkerungswachstum abzüglich des geschätzten natürlichen Wachstums darstellt, das in Abwesenheit von Migration auftreten würde.[ 2 ]

Abbildung 1: Rohziffer des Migrationssaldos plus statistische Anpassung

Weder die Nettoeinwanderungswelle nach Deutschland im Anschluss an die Wiedervereinigung Anfang der 1990er Jahre noch die beachtliche Nettoeinwanderung nach Spanien und Irland in den Boomjahren vor 2008 riefen großen Widerstand hervor. Während die ökonomischen Probleme des "Schuldeneuropas" zu einer Nettoauswanderung aus Irland, Spanien und Portugal seit dem Jahre 2009 führten, nahm die Nettoeinwanderung nach Deutschland zwar kontinuierlich zu, blieb aber unter dem Niveau der 1990er Jahre. Die legale Migration aus Osteuropa sowie die illegale Migration aus Nordafrika und anderen Gegenden ließen die Zuwanderung nach Italien im Jahre 2013 rasch anschwellen. Demgegenüber erlebte Polen durchweg eine beständige Nettoauswanderung, mit einem deutlichen Anstieg nach dem EU Beitritt im Jahre 2004. Die Nettoeinwanderung nach Großbritannien wirkt im Vergleich zu den Zuwanderungsströmen, die Deutschland, Spanien und Irland in der Vergangenheit verkraftet haben und Italien aktuell bewältigen muss, eher gering. Über alle Länder hinweg gesehen ist die Nettoeinwanderung seit dem Jahre 2009 quantitativ weniger bedeutend als zuvor. Warum also gewinnen Immigrationsgegner an Zustimmung?

Einwanderung wird im Besonderen von den älteren sowie den geringqualifizierten Arbeitern gefürchtet, die noch geringer verdienende einwandernde Arbeitskräfte als eine Arbeitsplatzgefahr wahrnehmen. Die empirische Evidenz zu diesem Thema ist allerdings nicht eindeutig (siehe z.B. Kerr und Kerr, 2011). Ein im Mai 2014 erschienener umfassender Bericht der britischen Regierung kommt zum selben Schluss (Britische Regierung, 2014).

Der Wohlfahrtsmagnet

Grundsätzlich zieht allerdings ein von hohen und progressiven Steuern finanzierter großzügiger Sozialstaat eher geringqualifizierte und geringverdienende Einwanderer an, die sehr wahrscheinlich Nettoprofiteure sind, und ein Land mit geringen Steuern sowie einem beschränkten Sozialsystem eher hochqualifizierte, gutverdienende und unternehmerische Einwanderer – eine Einsicht, die auf die "Wohlfahrtsmagnet"-Hypothese von Borjas (1999) zurück geht.

Zwar besteht allgemeine Einigkeit, dass die Arbeitsmarkteffekte der Einwanderung trotz der dem Wohlfahrtsmagnet geschuldeten Verzerrung positiv sind, doch zeigen empirische Studien erhebliche internationale Unterschiede in den fiskalischen Auswirkungen von Migration. Bei der Analyse des deutschen sozio-ökonomischen Panels (SOEP) fanden Sinn und Werding (2001) sowie Sinn et al. (2001), dass im Jahre 1997 die fiskalischen Kosten eines seit weniger als einem Jahrzehnt in Deutschland lebenden Einwanderers netto 2.367 Euro pro Jahr betrugen, wobei diese Kosten bei Berücksichtigung von Langzeit-Einwanderern auf 726 Euro fielen. In einer ebenso auf dem sozio-ökonomischen Panel basierenden Studie stellte Bonin (2014) fest, dass im Jahre 2012 Ausländer 3.300 Euro mehr einzahlten als sie in Form von Sozialleistungen und kostenloser Schulbildung erhielten, wobei er betonte, dass dieser Saldo negativ werden würde, wenn alle öffentlichen Ausgaben miteinbezogen werden würden. Tatsächlich ändert sich der Saldo auf minus 1.800 Euro je Ausländer, wenn ein breiterer Ansatz verfolgt wird.

Ferner legte der Autor auf der Basis einer Generationenbilanzierungsstudie dar, dass ein Ausländer/eine Ausländerin durchschnittlich Nettokosten in Höhe von 79.000 Euro über seine/ihre Lebenszeit verursacht. Im Gegensatz dazu fanden Dustmann und Frattini (2014) in einer auf indirekten ökonometrischen Beobachtungen basierenden Studie des Vereinigten Königreiches, die sämtliche Regierungsausgaben beinhaltet (und breit in den Medien diskutiert und auf VoxEU[ 3 ] präsentiert wurde), einen in der Summe positiven fiskalischen Effekt der Einwanderer, zu dem Einwanderer von außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums allerdings einen negativen Beitrag liefern. Die Unterschiede könnten dem weniger großzügigen Sozialsystem des Vereinigten Königreichs geschuldet sein, welches höher qualifizierte Einwanderung impliziert. Die Erklärung könnte aber auch in der Verfügbarkeit besserer Daten für Deutschland, insbesondere in Form des sozio-ökonomischen Panels, liegen.

EU-Verträge und -Gesetze

Unabhängig von ihren Auswirkungen auf die Finanzen des Sozialstaates ist die Personenfreizügigkeit seit dem Vertrag von Paris von 1951 ein unverrückbares Prinzip der EU. Direktive 2004/38/EC, welche frühere Direktiven ergänzt und konsolidiert, sichert zwar jedermann zunächst nur ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht für bis zu drei Monate in jedem Mitgliedstaat.[ 4 ] Alle arbeitenden oder selbständigen Unionsbürger haben jedoch ein Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate. Ferner haben grundsätzlich alle Unionsbürger ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht, sofern sie über ausreichend finanzielle Mittel verfügen, um dem Sozialleistungssystems nicht zur Last zu fallen; dazu müssen sie unter anderem eine ausreichende Krankenversicherung nachweisen. EU-Bürger (und Nicht-EU-Familienmitglieder, die mit ihnen gelebt haben) erhalten in einem anderen Mitgliedstaat automatisch das bedingungslose Aufenthaltsrecht, wenn sie dort für fünf Jahre legal gelebt haben. Sie haben dann wie ein Einheimischer Anspruch auf alle steuerfinanzierten Sozialleistungen und andere lokalen Leistungen. Dies bedeutet, dass eine Einwanderung in das Sozialsystem eines jeden EU-Mitgliedstaates möglich ist, ohne jemals am offiziellen Arbeitsmarkt teilzunehmen – mit der Einschränkung, dass während der ersten fünf Jahre keine Sozialleistungen verfügbar sind.

Die Direktive macht deutlich, dass die Abhängigkeit eines EU-Bürgers von sozialer Unterstützung nicht automatisch zu seiner Ausweisung aus dem Land führt. Falls der Bürger Arbeiter oder Selbständiger ist oder den Mitgliedstaat auf der Suche nach Beschäftigung betrat, darf er solange nicht ausgewiesen werden, wie er zeigen kann, dass er weiterhin auf der Suche nach Arbeit ist und eine reelle Chance hat, Arbeit zu finden.

Nichtsdestotrotz hielt ein kürzlich vor den Europäischen Gerichtshof gebrachter Fall fest, dass Einwohner eines Mitgliedstaates, die allein für die Beantragung sozialer Leistungen in einen anderen Mitgliedstaat reisen, während der ersten fünf Jahre vom Erhalt bestimmter Sozialleistungen ausgeschlossen werden können.[ 5 ] Während also ihre Handlungsfreiheit durch Verträge und Direktiven beschränkt ist, können die Mitgliedstaaten dennoch den Personen, die als "Wohlfahrtstouristen" zu bezeichnen sind, temporär bestimmte Leistungen verweigern.

Was kann getan werden?

Aus ökonomischer Sicht kann Freizügigkeit innerhalb einer Gemeinschaft mit nationalen Sozialsystemen der Umverteilung und stark voneinander abweichenden Realeinkommen zu übermäßiger Einwanderung von geringqualifizierten Arbeitern nach Nordeuropa führen. Was können Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden EU-Verträge und -Direktiven tun, um einer Sozialmigration entgegen zu wirken? Eine Möglichkeit besteht darin, das Inklusionsprinzip zu begrenzen, also das Prinzip, dass die Sozialleistungen vom Gastland erbracht werden müssen.

Gegenwärtig werden die Sozialleistungen vom Gastland und nicht vom Heimatlandland bestimmt. Alternativ könnte man aber auch das Heimatland für die Leistungen verantwortlich machen. Während das Inklusionsprinzip politischen Tendenzen zur Begrenzung der Migration Vorschub leistet und insofern mit der Personenfreizügigkeit kollidiert, verträgt sich das Heimatlandprinzip voll und ganz damit, weil der Bezieher von Sozialleistungen das Recht hat, diese Leistungen in jedem EU-Land seiner Wahl zu konsumieren.

Das Heimatlandprinzip hat darüber hinaus den Vorteil, dass es auch den Anreiz der Länder reduziert, ihre Sozialleistungen zu senken, um nicht zum Ziel von Armutswanderungen zu werden. Das gemeinhin befürchtete "Race to the Bottom" zwischen Sozialsystemen, die sich in einem Abschreckungswettbewerb gegenüber Sozialmigranten befinden, würde vermieden. Selbst wenn in einer entfernten Zukunft alle EU-Länder gleich werden sollten (und damit auch keine Nettomigration aufweisen), würden die Anreize, sich gegenseitig in Bezug auf Sozialleistungen zu unterbieten bei einer Beibehaltung des Wohnsitzprinzips für nicht-arbeitende Einwanderer ein Gleichgewicht mit zu geringer Umverteilung hervorbringen.

Die Alternative der Angleichung der Sozialleistungen über die EU hinweg ist ebenfalls eine Möglichkeit, die Wohlfahrtsmigration einzudämmen, doch ist das vorläufig ein utopischer Wunschtraum. Die Implementierung wäre praktisch unmöglich und brächte aufgrund der riesigen Unterschiede im Lebensstandard und der Produktivität innerhalb der EU mehr Schaden als Nutzen: Weite Teile der Union würden unter untragbarer Arbeitslosigkeit leiden.

In den Sozialsystemen sollte im Übrigen das Versicherungsprinzip wiederhergestellt und Leistungszahlungen sollten enger mit Beiträgen verknüpft werden. Solch ein Vorhaben schafft keine Verzerrungen durch das Inklusionsprinzip. Alle Ansprüche auf Sozialleistungen, die durch Beiträge verdient wurden, sollten indes international übertragbar sein. Die Kosten der Sozialleistungen würden von den Staaten getragen werden, die die Beiträge empfingen. Falls dies zentral organisiert werden würde, würde solch ein System eine immense Datenerfassung sowie die Angleichung der Sozialversicherungssysteme erfordern. Eine Zentralisierung ist jedoch nicht erforderlich, falls die Ansprüche unabhängig vom Aufenthaltsland an die Länder gerichtet werden können, in welchen sie erworben wurden.

Literatur

Borjas, G. J. (1999), "Immigration and Welfare Magnets," Journal of Labour Economics 17, S. 607–37.

Bonin, H. (2014), Der Beitrag von Ausländern und künftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt, Bertelsmann Stiftung.

Britische Regierung, Home Office and Department for Business, Innovation and Skills (2014), "Impacts of Migration on UK Native Employment: An Analytical Review of the Evidence," Occasional Paper Nr. 109.

Dustmann, C. und T. Frattini (2014), "The Fiscal Effects of Immigration to the UK," Economic Journal 124, S. F593–F643.

Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (2004), "Directive 2004/38/EC of the European Parliament and of the Council of 29 April 2004," Official Journal of the European Union 47, S. 77–123.

Kerr, S. P. und W. R. Kerr (2011), "Economic Impacts of Migration: A Survey," NBER Working Paper Nr. 16736.

Sinn, H.-W., G. Flaig, M. Werding, S. Munz, N. Düll und H. Hofmann (2001), EU-Erweiterung und Arbeitskräftemigration: Wege zu einer schrittweisen Annäherung der Arbeitsmärkte, ifo Beiträge zur Wirtschaftsforschung 2; in englischer Fassung auch erschienen als EU Enlargement and Labour Mobility – Consequences for Labour Markets and Redistribution by the State in Germany, ifo Institut: München 2003; auch erschienen als Forschungsbericht Nr. 286 des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 2001.

Sinn, H.-W. und M. Werding (2001), "Immigration Following EU Eastern Enlargement," CESifo Forum 2, S. 40–7.

Fußnoten

1  Dieser Beitrag ist eine Kurzversion des Kapitels 4 Migration in the European Union: Too much of a good thing? aus dem EEAG Report on the European Economy 2015, 2015, 78-96.

2  Verglichen mit einem direkten Maß der Bruttoeinwanderung abzüglich der Bruttoauswanderung ersetzt dieser Schätzer Fehler durch ungenaue Auswanderungsdaten mit Bevölkerungsprognosefehlern und könnte insgesamt der bessere Schätzer sein: Auswanderung, welche wenig Interesse hervorruft, wird häufig ungenau erfasst.

3  C. Dustmann und T. Frattini (2014), Positive economic impact of UK immigration from the EU, VOX.

4  Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union (2004).

5  Gerichtshof der Europäischen Union (2014), Economically inactive EU citizens who go to another Member State solely in order to obtain social assistance may be excluded from certain social benefits, Press release No. 146/14, 11. November.

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