Gazellen und Schildkröten

Autor/en
Hans-Werner Sinn
Project Syndicate, 26.08.2010

MÜNCHEN – Die weltweit schlimmste Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit ist vorbei. Sie brach 2008 plötzlich aus und verschwand nach ungefähr 18 Monaten fast genauso schnell, wie sie gekommen war. Bankenrettungsprogramme in Höhe von 5 Billionen Euro und keynesianische Konjunkturprogramme in Höhe von noch einmal 1 Billion Euro haben den Zusammenbruch abgewendet. Nachdem das Welt-BIP 2009 um 0,6 % gefallen war, wird nach den Prognosen des Internationalen Währungsfonds erwartet, dass es in diesem Jahr um 4,6 % und 2011 um 4,3 % steigt – schneller als im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnte.

Die europäische Schuldenkrise bleibt jedoch, und die Märkte trauen dem gegenwärtigen Frieden nicht. Die Zinsaufschläge, die Länder mit Finanzproblemen zahlen müssen, bleiben hoch und signalisieren ein anhaltendes Risiko.

Griechenlands Zinsaufschläge auf zehnjährige Staatsanleihen im Verhältnis zu Deutschland lagen am 20. August bei 8,6 %. Das ist noch höher als Ende April, als Griechenland praktisch pleite war und EU-weite Rettungsmaßnahmen vorbereitet wurden. Die Spreads für Irland und Portugal sind ebenfalls gestiegen, obwohl es Ende Juli so schien, als würde das gigantische Rettungspaket im Umfang von 920 illiarden Euro, das von der EU, den Euroländern, dem IWF und der Europäischen Zentralbank geschnürt worden war, die Märkte beruhigen.

Die Welt teilt sich derzeit in zwei Gruppen von Ländern: die einen, die in eine kräftige Erholung gestartet sind, und die anderen, die hinterherhinken und neue Probleme signalisieren. Die BRIC-Länder – Brasilien, Russland, Indien und China – gehören zur ersten Gruppe. Selbst Russland, wo der Aufschwung schwierig war und nur zögerlich kam, wird dieses Jahr voraussichtlich um 4,3 % wachsen. China bleibt Meister, mit einer Wachstumsrate von etwa 10 %.

Die zweite Gruppe besteht aus Ländern mit Schuldenproblemen, allen voran den Vereinigten Staaten. Obwohl die USA in diesem Jahr voraussichtlich um 3,3 % und im nächsten Jahr um 2,9 % wachsen werden – was ungefähr dem langfristigen Durchschnitt der letzten 30 Jahre entspricht – kann nicht von einem sich selbst tragenden Aufschwung die Rede sein, denn das Wachstum wird künstlich von einem atemberaubenden Haushaltsdefizit von vermutlich etwa 11 % des BIP erzeugt. Auch für 2011 wird mit 8,2 % immer noch ein riesiges Defizit erwartet.

Obwohl die USA nicht mehr unter einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit leiden, ist die aktuelle Arbeitslosenquote von 9,5 % für amerikanische Verhältnisse äußerst hoch, ungefähr doppelt so hoch wie vor der Rezession. Das Problem bleibt der Immobilienmarkt, dessen Zusammenbruch die Krise verursacht hat. Der Case-Shiller-Index für Einfamilienhäuser hat sich zwar im Frühjahr 2009 gefangen, nach einem Rückgang um 34 % gegenüber seinem letzten Hochpunkt 2006. Doch dümpelt er seitdem dahin, ohne dass ein Anstieg erkennbar wäre.

Der Bau neuer Einfamilienhäuser erreichte im Mai 2010 seinen Tiefstand seit Einführung dieses Indikators 1963. Die kommerziellen Immobilienpreise fielen von Mai bis Juni in diesem Jahr um alarmierende 4 %. All das wirkt sich negativ auf den US-Konsum, die Bauindustrie und das Bankensystem aus.

Die USA haben trotz des jüngsten Gesetzes zur Bankreform die strukturellen Schwächen ihrer Kapitalmärkte noch nicht behoben. Das Hauptproblem ist, dass der Fluss ausländischer Kredite geschwächt wurde, da hypothekenbesicherte US-Wertpapiere und die auf ihnen basierten Derivate überall nahezu unverkäuflich sind.

Dieser Markt hat sich einfach aufgelöst, wobei das jährliche Emissionsvolumen zwischen 1996 und 2009 um 97 % – von 1,9 Billionen US-Dollar auf lediglich 50 Milliarden US-Dollar – gefallen ist. 2009 musste fast die gesamte Wohnungsbaufinanzierung (95 %) über die staatlichen Agenturen Fannie Mae, Freddie Mac und Ginnie Mae laufen, um einen totalen Zusammenbruch der US-Wirtschaft zu verhindern.

Auch in Europa ist die Lage durchwachsen. Die ehemaligen Boom-Länder – Griechenland, Irland und Spanien – verharren in der Rezession, und ihre BIPs werden weiterhin schrumpfen. Die Arbeitslosenquote in Spanien, einer der größten europäischen Volkswirtschaften, ist auf 20 % hinaufgeschossen und zeigt nach wie vor kein Anzeichen für eine Besserung. Die spanische Wirtschaft nahm 2009 um 3,6 % ab und wird in diesem Jahr voraussichtlich um 0,4 % schrumpfen. Für Finnland, Großbritannien und Italien werden unterdurchschnittliche Wachstumsraten erwartet.

Doch erlebt Europas größte Wirtschaft, Deutschland, einen überraschend starken Wirtschaftsaufschwung. Der ifo-Konjunkturindikator ist jetzt eindeutig im „Boom“-Bereich, sowohl im Hinblick auf die Erwartungen als auch hinsichtlich der Beurteilung der aktuellen Lage. Tatsächlich ist der Indikator in seiner 50-jährigen Geschichte noch nie so steil in die Höhe geklettert, wie in den letzten 12 Monaten.

Deutschland, viele Jahre der Nachzügler Europas, soll in diesem Jahr um voraussichtlich 3 % oder mehr wachsen, während der Durchschnitt der EU-15 (und der EU-27) bei nur 1,1 % liegt. Auch auf dem deutschen Arbeitsmarkt zeigt sich eine wundersame Wende. Die Arbeitslosenrate, die zurzeit bei 7 % liegt, ist sogar geringfügig niedriger, als sie es auf dem Höhepunkt des letzten Booms im Herbst 2008 war, und es wird erwartet, dass sie weiter sinkt.

Auf der anderen Seite hat Frankreich, Europas zweitgrößte Wirtschaft, zu kämpfen. Seine Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 10 %, und das BIP-Wachstum wird dieses Jahr bei etwa 1,3 % anzusiedeln sein, nur geringfügig über dem EU-Durchschnitt. Während Deutschlands Arbeitslosenquote jetzt ein wenig niedriger ist als in der letzten Hochkonjunktur, ist die französische Quote bedeutend höher als in der letzten Flaute (2004-2005).

Die Erklärung für diese geteilte Welt ist, dass Länder wie Griechenland, Spanien und die USA, die eine lange Hochkonjunkturphase erlebten, die mit riesigen Kapitalimporten finanziert wurde, jetzt zunehmend Schwierigkeiten bekommen, ausländische Gelder aufzutreiben. Dagegen genießen Länder, die Kapital exportierten, einen Liquiditätsüberschuss, da das Kapital vor den „gesättigten“ Ländern zurückschreckt. Dieses überschüssige Kreditangebot führt zu zusätzlichem Konsum und mehr Investitionen und löst so einen Aufschwung aus.

Die westliche Welt erlebt derzeit ein Restrukturierung der Vermögensportfolios, das die internationale Rangfolge der Wachstumsraten gegenüber den Werten vor der Krise umkehrt. Ehemalige Meister humpeln über die Laufbahn; ehemalige Schildkröten sprinten wie Gazellen.