Handelsblatt, 13. April 2017, S. 50-51
Hans-Werner Sinn und Karl Marx, das klingt wie Feuer und Wasser: Hier der liberalkonservative Ordnungspolitiker, dort der brauseköpfige Revolutionär. Doch im Gespräch stellt sich schnell heraus, dass Sinn viel von den Marx'schen Lehren gelten lässt - und selbst eine Vergangenheit als linker Student hat.
Herr Sinn, wir würden gern mit Ihnen über Karl Marx streiten. Sollten wir dafür eher die Rolle der Marx-Kritiker oder der Marx-Versteher einnehmen?
Das kann ich so eindeutig nicht sagen, weil ich zu Marx unterschiedliche Positionen vertrete. Als ökonomischem Denker gebührt ihm in Teilbereichen durchaus Anerkennung. Allerdings war er auch ein Ideologe, der viele Zusammenhänge nicht verstanden hat oder nicht verstehen wollte.
Wobei man gerade in Ihrer Jugend leicht zum Marxisten werden konnte.
Stimmt. Ich habe 1967 mit dem Volkswirtschaftsstudium begonnen, da war Marx in aller Munde. Ich musste sogar meine Diplomarbeit über ihn schreiben, über das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Das Thema hatte ich mir nicht ausgesucht und hat mich zunächst geärgert, weil mir Marx zu kompliziert schien. Nachdem ich mich eingelesen hatte, fand ich es aber ganz interessant.
Hand aufs Herz, haben Sie alle drei Bände von "Das Kapital" gelesen?
Ja, alle drei Bände, und darüber hinaus. Es las sich spannend. Marx hat sehr plastisch und gut nachvollziehbar formuliert.
Und doch sind Sie der Faszination nicht erlegen, die der Marxismus in der 68er-Ära auf so viele Menschen ausübte. Wieso nicht?
Weil ich zugleich im Studium viele andere Theorien lernte, die überzeugender waren. Ich würde Marx trotzdem einen wichtigeren Platz in der Riege der Ökonomen zubilligen, als es die meisten meiner angelsächsischen Kollegen tun.
Was werfen die Marx vor?
Der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Paul Samuelsen und andere störten sich vor allem an seiner Arbeitswertlehre. Marx behauptete, dass sich die relativen Güterpreise in der Marktwirtschaft nach den in den Waren steckenden Arbeitszeiten richten. Das ist schon deshalb falsch, weil die Löhne nur einer von vielen Kostenfaktoren in einer Firma sind. Diese Theorie war ein Durcheinander, sie taugte tatsächlich nichts.
Wo war Marx überzeugender?
In der Makroökonomie. Keynes' Krisentheorie ist nah dran an Marx. Wichtig ist auch die Marx'sche Theorie über den Fall der Profitrate, also der Zinsen und Renditen. Wenn immer mehr Kapital pro Arbeit akkumuliert wird, erschöpfen sich die rentablen Investitionsmöglichkeiten. Das ist auch heute hochaktuell.
Inwiefern?
Wir erleben in Europa seit zehn Jahren eine Verschuldungskrise, die sich nicht bessert und eine weltweit anhaltende Wachstumsschwäche. Das sind Anzeichen für langfristig fallende Kapitalrenditen oder in der Lesart von Karl Marx: für fallende Profitraten. Renommierte Ökonomen wie Carl Christian von Weizsäcker oder Larry Summers beschreiben den Zustand als säkulare Stagnation, die zu einem Investitionsstreik führt.
Ein Systemfehler des Kapitalismus?
Schuld hat nicht der Kapitalismus, sondern die Intervention der Zentralbanken in Japan, den USA und in Europa. Sie verhindern mit ihrer ultralockeren Geldpolitik, dass Blasen platzen. Mit der Folge, dass die Preise der Aktien und Immobilien auf halbem Wege zum Gleichgewicht gestoppt werden und immer noch überhöht sind. Damit werden Banken und Firmen, die nicht mehr wettbewerbsfähig sind, künstlich am Leben gehalten. Sie halten die Immobilien und Arbeitskräfte im Griff, die junge Start-up-Unternehmer brauchen. Die Geldpolitik unterdrückt den notwendigen Prozess schöpferischer Zerstörung, wie ihn Joseph Schumpeter in enger Anlehnung an Marx beschrieben hat.
Was hat das mit Marx zu tun? Zur Lösung des Problems bräuchten wir nach Ihrer Lesart doch mehr Markt statt weniger.
Marx hat die Entwertung des Kapitals nach dem Platzen der Blase als Beginn eines neuen Aufschwungs gesehen, doch glaubte er, dass es zu einer Abfolge neuer Blasen mit immer schlimmeren Krisen kommen werde, an denen der Kapitalismus irgendwann zugrunde gehen werde.
Vielleicht hatte er recht, und der vermeintliche Triumph des Kapitalismus über den Sozialismus erweist sich nur als Etappensieg?
Möglich wäre es, ich will es nicht hoffen. Die Entwertungskrisen à la Marx und Schumpeter hatten wir in der Geschichte immer wieder. Ich sehe nicht, dass sie vor der Intervention der Zentralbanken immer schlimmer wurden.
Das Problem sind also nicht die Blasen selbst, sondern jene Institutionen, die sie vor dem Platzen bewahren?
Blasen sollten gar nicht erst entstehen, sie lassen sich theoretisch durch strenge Bankenregulierung oder eine restriktive Geldpolitik verhindern. Doch in der Praxis funktioniert das nicht immer, weil man eine spekulative Blase von gesundem Wachstum nur schwer unterscheiden kann und keiner den Aufschwung bremsen möchte.
Der Marxist würde dagegenhalten, dass die Interessenverflechtung im Kapitalismus zwangsläufig die Rolle des Staates als Ordnungskraft schwächt. Zeigen das nicht die vielen Widerstände bei der Regulierung von Banken?
Die Gefahr sehe ich durchaus. Es braucht hier international dringend härtere Regeln.
Doch genau das klappt ja offenbar nicht. Liegt das an der diskreten Macht des Kapitals im Gewand des Lobbyismus?
Ja. Allerdings muss man kein Marxist sein, um diese Meinung zu teilen. Das können Sie besser bei Ökonomen wie James Buchanan, Gordon Tullock oder Mancur Olson nachlesen, die ebenfalls vor der Verflechtung zwischen Staat und Wirtschaft warnen.
Warum beziehen wir uns gerade in Deutschland trotzdem immer wieder auf Karl Marx? Historisch gesehen haben doch andere Denker in viel eindrucksvollerem Maße recht behalten, etwa Adam Smith.
Der Sozialismus ist eine deutsche Erfindung und hat hier viele Fürsprecher. Die Linke ist bei uns stark, die meisten Journalisten sind politisch links. Deutschland hat mit der ordoliberalen Schule zwar auch eine große marktwirtschaftliche Tradition, aus der heraus Ludwig Erhard die Bundesrepublik konstruierte. Doch ist der Ordoliberalismus längst nicht so populär, wie er es eigentlich verdient hätte. Die Umverteilung ist stets populärer als die Bereitschaft, die Rahmenbedingungen zu schaffen, auf deren Basis das Verteilbare überhaupt erzeugt werden kann.
Stichwort Umverteilung: Marx schreibt, "das Kapital hat das Eigentum in wenigen Händen konzentriert". In Deutschland besitzen zehn Prozent der Bevölkerung mehr als 50 Prozent des gesamten Nettovermögens. Selbst der IWF warnt vor einem weltweit steigenden Ungleichgewicht: Die Wirtschaft wächst, das Einkommen der Arbeiter sinkt.
Die Vermögensverteilung ist im Kapitalismus nun einmal ungleich, sonst würde er nicht funktionieren. Das ist der Preis für die überlegene Effizienz des Systems. Gleichzeitig haben wir einen der am besten entwickelten Sozialstaaten der Welt, der die Härten abfedert. Und: In Deutschland hat die Ungleichheit der Nettoeinkommen nicht zugenommen. Das liegt daran, dass wir im internationalen Vergleich besonders stark umverteilen und seit Schröders Reformen mehr Geld zum Mitmachen und weniger zum Wegbleiben geben. Schröder und sein Wirtschaftsminister Clement haben einen recht guten Kompromiss zwischen Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz gefunden.
Erst verteidigen Sie Karl Marx in weiten Teilen, jetzt auch noch den real existierenden Sozialstaat in Deutschland. Herr Professor Sinn, geht es Ihnen gut?
Bevor die Agenda 2010 eingeführt wurde, hatte ich weit mehr Grund, kritisch zu sein. Die fehlende Lohnspreizung im Deutschland der 1980er- und 90er-Jahre war ein Problem. Wir waren Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten. Das ist mit Schröders Reformpolitik zum Glück überwunden. Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben, weil der Staat Lohnzuschüsse gewährt. Das ist meine Interpretation der Agenda 2010. Leider wird derzeit alles schleichend zurückgedreht.
Auch weil es schwer ist, den sogenannten Marktverlierern zu erklären, dass sie den Preis für ein effizientes Wirtschaftssystem zahlen. Die Zustimmung zur Marktwirtschaft ist niedrig, Populisten sind weltweit auf dem Vormarsch.
Die Marktwirtschaft ist ein komplexes System, besonders wenn man sich fachlich damit nicht beschäftigt. Es war leichter, ihre Vorzüge zu erklären, als es die DDR noch gab. Man brauchte nur über den Zaun blicken, da sah man die Alternative. Die Marktwirtschaft ist nun einmal nicht gerecht, denn die Knappheitsentlohnung, die ihr Wesenselement ist, hat mit Gerechtigkeit wenig zu tun. Ein gewisses Maß an Ungleichheit muss man hinnehmen, das muss man den Menschen immer wieder klarmachen.
Kaum jemand hat ein Problem mit Ungleichheit, wenn sie erfolgreiche Unternehmer belohnt. Aber warum werden Manager, die keinerlei persönliches Risiko tragen, selbst bei Misserfolg noch mit Millionenabfindungen verabschiedet?
Wenn ich anderen etwas voraushabe, entsteht im Wettbewerb um meine Leistung ein sehr hoher Lohn. Nehmen wir einen Fußballspieler. Der kassiert viele Millionen, wenn er etwas besser spielt als die anderen. Denn Vereine bieten im Wettbewerb um ihn hohe Summen. So ist das auch in der Wirtschaft. Es gibt Manager, die ein bisschen cleverer sind als ihre Rivalen in den Konkurrenzfirmen. Die Cleveren bekommen hohe Gehälter, was nicht unbedingt nur mit ihrer subjektiven Anstrengung zu tun hat. Solche Manager sind eine knappe Ressource, was die Aktionäre veranlasst, hohe Summen für sie auszugeben.
Fußballspieler erbringen nachprüfbare Leistungen. Sie schießen Tore. Bei den Entscheidungen über Managervergütungen regiert hingegen ein Interessenkartell aus Aufsichtsräten, die früher Vorstände waren, und Vorständen, die Aufsichtsräte werden wollen. Wo sehen Sie da einen funktionierenden Markt?
Sie können davon ausgehen, dass die relevanten Aktionäre sehr wohl darauf achten, dass ihr Geld richtig verwaltet wird und sie kompetente Manager einsetzen. Wenn Sie als CEO Fehler machen, sind Sie sehr schnell draußen. Das ist ein brutales Geschäft, ähnlich wie beim Fußball, wo der Trainer auch gefeuert wird, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Ich sehe viel mehr Parallelen als Unterschiede. Was im Inneren der Fußballklubs passiert, wissen Sie und ich im Übrigen auch nicht.
Noch einmal zurück zu Ihrer Jugend in der 68er-Zeit. Hatten Sie damals eigentlich lange Haare?
Nein. Ich war allerdings im Sozialdemokratischen Hochschulbund SHB, bis die SPD sich 1971 von ihm löste. Zu Beginn meines Studiums war mir noch nicht klar, wer nun recht hat: meine Professoren, die von der unsichtbaren Hand des Marktes sprachen, die alles steuert. Oder die Wortführer der Linken, die die Anarchie der Märkte anprangerten.
Wann klärte sich Ihre Haltung?
Ich verstand mit der Zeit, dass die Marktwirtschaft eine Selbstorganisationskraft besitzt, die sie letztlich über jeden Versuch erhebt, Zentralverwaltungsorgane einzurichten.
Das führte sicher zu interessanten Debatten mit den Genossen beim SHB.
Ach, ich habe als junger Student eher zugehört, als das Wort geführt. Im Jahr 1968 gab es viele umfunktionierte Vorlesungen, in denen die älteren Studenten Professoren in Debatten verwickelten. Das habe ich mit Interesse verfolgt.
Hätte aus Ihnen ein Marxist werden können, wenn Sie statt Volkswirtschaftslehre beispielsweise Soziologie studiert hätten?
Über diese Frage habe ich noch nie nachgedacht. Ich glaube aber nicht. Die Neugier eines jungen Studenten frisch vom Gymnasium ist das eine. Aber dann war da noch die Vorsicht, sich einer Ideologie zu verschreiben, die man nicht durchdrungen hat. Ich habe mich nie zu einem Thema aus dem Fenster gelehnt, bevor ich für mich Klarheit gewonnen hatte. Die Wahrheit ist nicht fachgebunden.
Herr Professor Sinn, danke für das Interview!
Das Interview führten Anna Gauto und Christian Rickens.
Nachzulesen unter www.handelsblatt.com