Die offene Währungsunion

Vor zwei Wochen entwarfen in der ZEIT die Sozialforscher der Glienicker Gruppe ein neues Europa. Der Präsident des ifo Instituts, HANS-WERNER SINN, warnt vor dem Konzept
Autor/en
Hans-Werner Sinn
Die Zeit, 31.10.2013, Nr. 45, S. 33

Die Europäische Union hat die Völker vom Joch des Nationalismus befreit und ganz maßgeblich zu Frieden und Prosperität in Europa beigetragen. Ihre Stabilität liegt im freiwilligen Zusammenhalt der Völker zum gegenseitigen Nutzen. Diese Stabilität wird jedoch durch die Euro-Krise gefährdet, die, wie die Glienicker Gruppe in ihrer wichtigen Stellungnahme zu Recht betont, in keiner Weise überwunden ist. Die Katastrophe auf den südeuropäischen Arbeitsmärkten spricht den Brüsseler Jubelmeldungen Hohn.

Die Glienicker Gruppe erhofft sich eine Lösung von einer politischen Union, deren Zentrale gegenüber den Mitgliedstaaten durchgreifen kann und die eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik betreibt. Auch ich halte eine solche Union für nötig, befürchte allerdings, dass wir hier die Rechnung ohne den Wirt machen. Mehrere französische Präsidenten haben dem Fernziel der Vereinigten Staaten von Europa eine klare Absage erteilt. Bei diesem Thema beißt man in Frankreich auf Granit. Auch bin ich nicht überzeugt davon, dass die politische Union gegen die Krise etwas ausrichten kann, so wichtig sie grundsätzlich wäre. Und wenn, dann nicht so wie von der Gruppe vorgeschlagen.

Große Probleme sehe ich bei dem Vorschlag, die politische und fiskalische Union mit den Euro-Ländern statt den EU-Ländern zu entwickeln. Der Euro-Verbund soll eine Wirtschaftsregierung erhalten, die neben der EU über ein zweites europäisches Budget verfügt. In einem großen "Euro-Vertrag" soll das Europa der zwei Geschwindigkeiten festgeschrieben werden. Das überzeugt mich weder politisch noch ökonomisch.

Eine Fiskalunion auf der Basis des südlastigen Euro-Verbundes würde Europa spalten, weil viele EU-Länder im Norden und Osten der Euro-Zone nicht beitreten werden, solange die Krise andauert. Der Spalt wird großenteils entlang Deutschlands Grenzen verlaufen. Das kann nicht im Interesse unseres Landes liegen. Auch der Vorstellung, man könnte Europa zu einer politischen Macht entwickeln, die in der Weltpolitik ein gewichtiges Wort mitzureden hat, obwohl Großbritannien ausgeschlossen ist, vermag ich nicht zu folgen.

Ökonomisch halte ich den vorgeschlagenen Weg für bedenklich, weil er angesichts der riesigen Produktivitätsunterschiede im Euro-Raum auf eine Transferunion hinausläuft. Zwar sprechen die Autoren nur von einer gemeinsamen Arbeitslosenversicherung, die die Europäer gegen einen dramatischen Konjunktureinbruch versichern soll, doch ist die Krise Südeuropas alles andere als ein Konjunktureinbruch. Es handelt sich vielmehr um eine angebotsseitige, strukturelle Wettbewerbskrise, die durch den Euro und die ihn begleitende Regulierung selbst verursacht wurde. Indem der Euro die Investoren in Scharen gen Süden trieb, schuf er eine inflationäre Kreditblase mit Löhnen, die der Produktivität davoneilten. Die Blase platzte, als die amerikanische Finanzkrise nach Europa herüberschwappte. Zurück blieben völlig überteuerte Volkswirtschaften, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren haben und nun in einer Massenarbeitslosigkeit zu verkommen drohen. Selbst Frankreich siecht dahin.

Man kann diese Massenarbeitslosigkeit zwar durch Transfers wie Arbeitslosenhilfe erträglich machen, erhält damit aber zugleich falsche Lohnstrukturen und fehlende Wettbewerbsfähigkeit. Die Volkswirtschaften erstarren dann in einer "holländischen Krankheit", wie sie nach den niederländischen Gasfunden einsetzte. Oder wie sie die neuen Bundesländer nach der Wiedervereinigung befiel, als die überhöhten Löhne, die die westdeutschen Konkurrenten zum Schutz vor Konkurrenz verordnet hatten, durch West-Ost-Transfers teils finanziert und abgefedert wurden. Weil Arbeitsplätze fehlen, geht eine ganze Generation verloren. Das sehen die Autoren zu Recht als die größte Gefahr an.

Die Transferstrategie lähmt nicht nur, sie ist auch teuer. In Deutschland mussten 80 Westdeutsche 20 Ostdeutsche mitfinanzieren, in der Euro-Zone läge das Verhältnis bei 60 zu 40, wenn man die sechs offiziellen Krisenländer als Transferempfänger klassifiziert. Bei den von der Glienicker Gruppe genannten Minimalbeträgen für ein Euro-Budget wird es deshalb nicht bleiben.

Der Euro hat die Völker Südeuropas in eine Wettbewerbsfalle und die Völker Nordeuropas in eine Haftungsfalle getrieben. Statt des Friedens, den Helmut Kohl sich erhoffte, hat er Streit gebracht. Noch nie habe ich in meinem Leben so viele Hakenkreuzfahnen gegen Deutschland gerichtet gesehen wie in der vom Euro selbst erzeugten Krise. Die Situation ist verfahren und keiner einfachen Lösung mehr zugänglich.

Der einzige Ausweg besteht darin, die Euro-Zone in eine atmende Währungsunion zu verwandeln. Es geht darum, den Ländern zu helfen, die so teuer geworden sind, dass sie im Euro-Verbund auf lange Zeit nicht zurechtkommen werden. Sie brauchen das Recht, auf Zeit aus dem Euro auszutreten, ihre neue Währung abzuwerten und später, nach Reformen, wieder zurückzukehren. Dann entstehen sehr schnell wieder Arbeitsplätze. In der Asienkrise Ende der 1990er Jahre hatten alle Länder, die alsbald wieder Fuß fassten, ihre Währungen abgewertet, und auch Japan scheint nun durch die Abwertung des Yen wieder auf die Beine zu kommen. Ein solcher atmender Euro wäre auch für Länder wie Polen oder die Tschechische Republik attraktiv, weil er sie davor schützte, einer Transferunion beizutreten.

Da beim Austritt auch die Außenschulden mit abgewertet werden müssten, würde die atmende Währungsunion dafür sorgen, dass sich die Investoren genau überlegen, wem sie ihr Geld geben. Dadurch würden inflationäre Kreditblasen, wie sie im Euro-Verbund auftraten, von vornherein vermieden. Und die Kapitalflucht, die kurz vor einem Austritt droht, könnte man mit dem in Zypern angewandten Instrumentarium verhindern - man weiß also schon, wie das geht. Nach dem Austritt und der Abwertung können alle Kapitalverkehrskontrollen aufgehoben werden, weil das Kapital dann in die Krisenländer zurückdrängt und mithilft, den Aufschwung herbeizuführen.

Solange wir die Vereinigten Staaten von Europa nicht haben, wird der Euro nicht wie der Dollar funktionieren können. Deshalb brauchen wir im Übergang ein System zwischen dem Festkurssystem der Nachkriegszeit und dem Dollar. Sollte Frankreich eines Tages doch seinen Widerstand gegen eine echte politische Union aufgeben, kann man den großen Schritt zu einem dollarähnlichen System gehen, das dann auch für die mittel- und osteuropäischen Länder attraktiv wäre. Wer jedoch mit einer Fiskalunion für den Euro-Raum in Vorleistung geht, wird die politische Union Europas niemals erreichen.

Mir ist bewusst, dass die Politik und die Finanzindustrie den heutigen Weg bevorzugen. Die einen wollen Austritte nicht, weil sie ihren Vorstellungen vom Primat der Politik widersprechen, und die anderen wollen sie nicht, weil sie um das Ende des Freikaufs durch die Steuerzahler fürchten. Aber die Bürger Südeuropas hätten bei einem vorübergehenden Austritt aus der Währungsunion wieder Arbeit, und die nördlichen Länder müssten nicht dauerhaft einen Teil ihres Wohlstands opfern, um die südlichen zu stützen. Europa würde erstarken, und seine Bürger würden die weiteren Integrationsschritte viel entspannter angehen können, als es heute der Fall ist. Friedensordnungen können nur im Einklang mit ökonomischen Gesetzen formuliert werden.