Die Presse, 30. Mai 2017, S. 27
Nach der Erleichterung über den Ausgang der französischen Präsidentenwahl und der Europa-Euphorie, die Emmanuel Macron ausstrahlt, macht sich inzwischen wieder Ernüchterung breit.
Was will der neue Staatspräsident eigentlich tun, um Frankreichs siechende Industrie, deren Produktion immer noch zwölf Prozent unter dem Vorkrisenniveau vom 3. Quartal 2007 liegt, wieder flottzumachen: keine Erhöhung des Rentenalters, keine Änderung der 35-Stunden-Woche, keine Einschränkung des Kündigungsschutzes. Doch das Geld anderer Länder muss her, um den zusammengebrochenen Absatzmärkten Frankreichs im Süden des Euroraums neue Kaufkraft zuzuführen.
Das ist, zugegeben, eine sehr holzschnittartige Darstellung des Programms, mit dem Emmanuel Macron gewählt wurde. Es trifft jedoch den Kern. Denn: Was sonst könnte gemeint sein, wenn eine gemeinsame Einlagensicherung, eine gemeinsame Arbeitslosenversicherung, eine gemeinsame Steuer, ein gemeinsames Budget und gemeinsam besicherte Verschuldungsmöglichkeiten für einen neu zu schaffenden Euro-Finanzminister gefordert werden? Die Motive sind nur allzu durchsichtig.
Vertiefte Gräben
Und was soll die Forderung nach einem neuen Parlament für die Länder der Eurozone zusammen mit der Forderung eines Europa der zwei Geschwindigkeiten anderes sein, als die Spaltung der EU zu propagieren?
Wenn die Eurozone zu einer Transferunion mit einem eigenen Parlament ausgebaut wird, wie Macron es will, wird der Graben an der Nord- und Ostseite der EU, der Dänemark, Schweden, Polen, die Tschechische Republik, Kroatien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vom Rest der EU trennt, nur noch weiter vertieft.
Donald Tusk, der polnische Ratspräsident der EU, hat dazu sarkastisch bemerkt, dass es ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bereits bis 1989 gegeben habe. Das brauche man nicht noch einmal.
Man wird es auch nicht so einfach bekommen. Selbst wenn auch die deutsche Bundesregierung und das deutsche Parlament Macron helfen wollten - sie können es gar nicht.
Budgetrecht unveräußerlich
Das Budgetrecht ist nämlich ein unveräußerliches Recht des deutschen Bundestages, dem die deutsche Verfassung eine Ewigkeitsgarantie gegeben hat. Der Bundestag kann es selbst dann nicht durch die Übertragung eines Teils seiner Steuerhoheit auf europäische Instanzen einschränken, wenn 100 Prozent der Abgeordneten dafür stimmen würden. Dazu ist vielmehr ein Volksentscheid nötig.
Das mächtige deutsche Verfassungsgericht, das in verschiedenen Urteilen dargelegt hat, dass die Eurozone mit ihren Rettungsaktionen bereits bis zum äußersten Rand dessen gegangen ist, was das Grundgesetz zulässt, wird darüber wachen, dass das Budgetrecht unversehrt bleibt. Es wird sich diesmal, anders als beim OMT-Urteil (Outright Monetary Transactions), nicht dem EUGH beugen, denn es ist nicht die Aufgabe des EUGH, das Grundgesetz zu interpretieren.
Dessen ungeachtet ist es richtig, dass die europäische Integration voranschreiten sollte. Im Bereich der Sicherheitspartnerschaft und bei den grenzüberschreitenden Verkehrswegen ist noch viel zu tun. Vor allem muss Europa nun endlich die Lehre aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts ziehen und die nationalen Armeen abschaffen. Denn das ist es doch vor allem, was die europäische Friedensunion, die in den Sonntagsreden der Politiker immer wieder beschworen wird, bedeuten muss.
Großbritannien wollte die gemeinsame Armee nicht, aber es ist in absehbarer Zeit wohl nicht mehr in der EU. Die Regierungschefs der Nachkriegszeit wollten sie indes und hatten dazu auch schon den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft paraphiert. Der Vertrag scheiterte 1954 am Veto der französischen Nationalversammlung.
Es ist nun an der Zeit, einen neuen Anlauf zu wagen, der eines dynamischen jungen Präsidenten bedarf, wie Macron einer ist. Das deutsche Volk wäre vermutlich dafür zu gewinnen, der Zusammenlegung der Armeen in einem formellen Volksentscheid zuzustimmen. Und vermutlich ließen sich auch die Völker Osteuropas zur Zustimmung bewegen.
Sprung über den Schatten
Hier liegt die Chance einer europäischen Einigung, die Macron den Eintrag in den Geschichtsbüchern sichern würde. Er muss dann über die langen Schatten seiner Amtsvorgänger springen, die eine politische Union stets kategorisch ausgeschlossen haben.
Er sollte aber verstehen, dass die anderen, noch halbwegs soliden Länder der EU befürchten, dass sie die politische Union nie bekommen, wenn sie nun ihr Portemonnaie auf den Tisch legen und einer Fiskalunion zustimmen, ohne dass die nationalen Streitkräfte in einem europäischen Verbund mit gemeinschaftlicher Kontrolle aufgehen.
Eine Fiskalunion ohne politische Union würde den europäischen Einigungsweg für immer verbauen und die Völker Europas gegeneinander aufbringen - und zwar noch mehr, als es der Euro getan hat. Das kann niemand wollen, der die EU zu einer Friedensunion weiterentwickeln will.
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