Die Griechen sind bis zur Halskraus verschuldet – und suchen händeringend Geldgeber. Die Euro-Nachbarn zögern. Im Interview erklärt Hans-Werner Sinn, Präsident des renommierten Ifo-Instituts, was jetzt passieren muss. Warum Athen den Euro eine zeitlang abgeben sollte. Woher Hilfe kommen kann. Und warum Deutschland erpressbar ist.
FOCUS Online: Die Chefs der Euroländer lassen seit Wochen durchblicken, dass sie Griechenland helfen wollen. Beschlossen aber ist noch nichts. Ein Ausdruck von Hilflosigkeit?
Hans-Werner Sinn: Zum Glück gibt es keine konkreten Versprechen. Griechenland hat sich in die Eurozone gemogelt und mit seiner Schuldenpolitik bewusst gegen die Spielregeln verstoßen. Wenn die EU die Rechnung begleicht, würde der Druck auf Athen sinken, den Haushalt in Ordnung zu bringen. Dass es den Druck überhaupt gibt, ist den Investoren am Finanzmarkt zu verdanken, die auf höhere Zinsen pochen. Der Fall Griechenland zeigt, dass die EU selbst leider keine Handhabe besitzt, Schuldensünder zu bestrafen.
FOCUS Online: Kann Griechenland auf Dauer ohne Finanzspritzen aus der Krise finden?
Sinn: Die Lage ist dramatisch. Selbst wenn die EU das Minus im Staatshaushalt ausgleicht, bleibt noch immer ein horrendes Defizit im Außenhandel. Die Griechen kaufen viel mehr im Ausland ein, als sie dorthin verkaufen. Im Jahr 2008, dem aktuellsten Jahr, für das wir Zahlen haben, lag das Defizit bei 16 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder 38 Milliarden Euro. Selbst wenn das Staatsdefizit vollständig beseitigt würde und der Rest der Ökonomie vor einer Rezession geschützt bliebe, wären es immer noch zwölf Prozent. Die EU müsste auf Dauer Geschenke nach Athen tragen, um den Löwenanteil hiervon zu finanzieren. Das aber lässt sich nicht durchsetzen, die Gemeinschaft würde zur Transfergesellschaft verkommen. Otmar Issing, der langjährige Chefökonom der EZB und „Vater“ des Euro hat dazu gesagt, dass die Vorstellung, hierdurch könne der Euro gestärkt werden, „geradezu grotesk“ sei.
FOCUS Online: Was muss passieren?
Sinn: Es handelt sich um eine griechische Tragödie, das Ende ist in jedem Fall schrecklich. Es gibt drei Möglichkeiten. Erstens, wir schenken Griechenland das Geld. Zweitens, Griechenland geht in eine scharfe Depression mit sinkenden Preisen und Löhnen, bis es seine Wettbewerbsfähigkeit wieder erhöht hat. Drittens, Griechenland tritt aus dem Euro aus und wertet ab, wobei gleichzeitig ein Schuldenmoratorium erklärt wird. Die erste Möglichkeit ist schrecklich, weil es dann viele Nachahmer in der EU gäbe, die wir in den kommenden Jahren auch noch finanzieren müssten. Die zweite ist schrecklich, weil Griechenland an den Rand des Bürgerkriegs getrieben würde. Jede Gruppe, bei er man mit der Kürzung beginnt, würde radikalisiert. Die dritte Möglichkeit ist schrecklich, weil der Euro ein Mitglied verlöre, die Spekulanten sich auf das nächste Opfer stürzen würden und die deutschen Banken einen Teil der 32 Milliarden Euro an griechischen Staatspapieren, die sie in ihren Büchern haben, verlieren würden.
FOCUS Online: Was ist die am wenigsten schreckliche Alternative?
Sinn: Die erste Möglichkeit ist die beste für Griechenland, aber nicht akzeptabel für Deutschland und andere Nettozahler. Ich teile die Meinung von Otmar Issing. Die zweite Möglichkeit, also die Depression, nützt niemandem und führt zur Destabilisierung des östlichen Mittelmeerraumes. Ich halte sie für völlig inakzeptabel, sowohl für Griechenland als auch für die EU. Die dritte Möglichkeit ist die zweitbeste für Griechenland und die beste für uns, trotz des möglichen Dominoeffekts. Wenn man den Märkten klarmacht, dass Griechenland sich in einer Ausnahmesituation befindet, weil es sich in den Euro hineingemogelt hat, mag es sogar gelingen, den Euro besser zu stabilisieren, als wenn Griechenland drin bliebe.
FOCUS Online: Die Griechen wollen den Euro nicht abgeben, ein Rauswurf ist rechtlich nicht möglich.
Sinn: Niemand will die Griechen vor die Tür setzen. Ein temporärer, freiwilliger Austritt aus der Eurozone aber wäre der Weg mit dem geringsten Schrecken. Die Griechen würden die Drachme einführen, im Verhältnis eins zu eins zum Euro, dann können sie alle Preislisten und Lohnkontrakte behalten. Gleichzeitig müsste die neue Währung abwerten. Am besten wäre es, alles würde schnell und überraschend passieren. Es würde für die Menschen teurer, im Ausland einzukaufen. Die Importe würden sinken. Und die Exporte würden steigen, insbesondere der Export touristischer Dienstleistungen. Aber ansonsten gäbe es im Inneren keine Verwerfungen, die Ähnlichkeiten mit einer Senkung der Preise und Löhne im Euroverbund hätte. Die meisten Löhne und Preise fallen im Gleichklang, ohne dass es die Leute überhaupt merken. Sobald die Außenhandelsbilanz wieder im Gleichgewicht ist, könnte die Regierung erneut die Aufnahme in die Eurozone beantragen.
FOCUS Online: Wie lange wäre Griechenland draußen?
Sinn: Das lässt sich nicht abschätzen. Das hängt von dem Verhalten der Griechen ab.
FOCUS Online: Wer verliert bei diesem Weg?
Sinn: Die internationalen Investoren, die Gläubiger, auch deutsche Banken müssten einen Teil ihrer Kredite abschreiben. Für die Menschen in Griechenland aber wäre die Anpassung mit viel weniger Schmerzen verbunden als eine Depression mit einer Senkung von Löhnen und Preisen im Euroverbund. Soziale Unruhen ließen sich vermeiden. Man muss allerdings schnell und überraschend handeln, auf der Basis von Bilanz- und Vermögenspositionen eines bereits zurückliegenden Zeitpunktes. Der Internationale Währungsfonds (IWF), dem ich die akute Rettung Griechenlands anvertrauen würde, hat viel praktische Erfahrung, wie so etwas zu geschehen hat.
FOCUS Online: Was spricht für den IWF?
Sinn: Der IWF verfügt über einen Topf von 500 Milliarden Dollar zur Rettung bedrängter Länder. Der IWF würde gegen Auflagen helfen – und den griechischen Politikern die Alternativen drastisch vor Augen führen: Depression oder temporärer Austritt. Der IWF ist die Instanz, die jetzt gefragt ist. Auch wir Deutschen haben Geld nach Washington überwiesen, damit der IWF bei Schuldenkrisen eingreift. Schon deshalb ist es nicht einzusehen, dass die EU ein eigenes Hilfspaket schnürt – wir würden doppelt zahlen. Für den IWF spricht auch, dass es so oder so erhebliche Proteste in Griechenland geben wird, wenn man dem Land nicht immer wieder mit Geschenken hilft. Es ist besser, wenn sich der Zorn gegen den IWF richtet als gegen uns. Der Währungsfonds ist weit weg und kann damit leben. Was immer die europäische Hilfen sind, die Griechen werden sie als unzureichend empfinden und ihren Zorn gegen die Geberländer richten, wenn mit den Hilfen schmerzliche Auflagen verbunden sind. Es wäre eine große Fehlentscheidung der deutschen Politik, wenn wir uns da hineinziehen ließen. Gerade wir Deutschen sind erpressbar, wie griechische Politiker in den letzten Wochen überdeutlich klar gemacht haben.
FOCUS Online: Griechenland ist nur die Spitze des Eisbergs. Die Länder der Eurozone driften auseinander. Südeuropa häuft Außenhandelsdefizite an, während Deutschland als Exportgigant glänzt. Müssen wir unser Geschäftsmodell ändern, damit die Statik der Eurozone nicht wegbricht?
Sinn: Ja. Wenn ein Land sich verschuldet, sind daran zwar nicht die Gläubiger schuld. Andererseits ist bekannt, dass ich seit Jahren den pathologischen Exportboom in Deutschland kritisiere, der sich als Gefahr für die Eurozone erwiesen hat. Überspitzt gesagt, bestand das deutsche Geschäftsmodell darin, Autos und Werkzeugmaschinen gegen Lehman Brothers und griechische Staatsanleihen zu verkaufen. Man sollte sich überlegen, ob man damit wirklich so weitermachen will. Wir haben unsere Exporte großenteils verschenkt, denn weder die Amerikaner noch die Griechen werden ihre Schulden bezahlen. Was nützt es uns, wenn wir Weltmeister im Verschenken von Industrieartikeln sind und uns dann gegenseitig auf die Schultern klopfen? Das muss sich ändern.
FOCUS Online: Frankreichs Finanzministerin Lagarde fordert, Deutschland solle die Binnennachfrage stärken – und empfiehlt sinkende Steuern.
Sinn: Steuersenkungen werden mit jedem Tag schwieriger. Am wichtigsten ist es, die Investitionen anzukurbeln, nicht den Konsum. Deutschland produziert zu wenig im Inland, auch weil die Löhne für gering Qualifizierte zu hoch und die Standortbedingungen zu schlecht sind. Deutschland hatte in den Jahren vor der Krise die kleinste Investitionsquote aller OECD-Länder. Auch das muss sich ändern. Wenn mehr Unternehmen in der Heimat investieren, brauchen sie dafür auch mehr Importe, und absorbieren einen Teil der Maschinen, die sonst exportiert worden wären. Der Maschinenbau könnte seine Waren wieder verstärkt in Deutschland verkaufen, und bei den Investoren entstünden Arbeitsplätze. Mehr gebaut würde auch. Die Bauindustrie würde boomen. Es wäre auch besser, wenn die Banken ihre Ersparnisse den deutschen Investoren als Kredit geben, denn die würden das Geld zurück zahlen. Exporte und Importe kämen wieder besser ins Gleichgewicht, und der Kapitalexport nähme ab.
FOCUS: Muss man nicht die Löhne erhöhen, um die Binnennachfrage zu stärken?
Sinn: Nein, je höher die Löhne pro Arbeitnehmer sind, desto kleiner ist die Zahl der rentablen Jobs, desto kleiner das Volkseinkommen, desto kleiner die Summe aus Konsum- und Investitionsgüternachfrage, die daraus gespeist werden kann. Es ist noch nicht einmal klar, ob die Lohnsumme, die wichtiger Teil des Volkseinkommens ist, steigt, wenn man die Lohnsätze erhöht. Es ist leider alles genau andersherum, als uns manche Politiker weismachen wollen.
FOCUS Online: Wie lassen sich Investitionen sonst noch ankurbeln?
Sinn: Die Regierung müsste die Banken strenger regulieren, sie mit neuem Kapital ausstatten, den Arbeitsmarkt deregulieren, den Sozialstaat in die Richtung einer aktivierenden Sozialpolitik ausweiten, wie sie mit der Agenda 2010 begonnen wurde. Die Liste der notwendigen Maßnahmen ist lang. Schnell würden Abschreibungsvergünstigungen wirken, weil sie deutsche Investitionen im Vergleich zu ausländischen fördern. Allgemeine Steuersenkungen sind indes nicht sonderlich wirksam, weil sie ja auch die im Ausland verdienten Zinserträge entlasten. Die Vorteile solcher Steuersenkungen liegen anderswo. Am wichtigsten ist es, einen Weg zu finden, die gewaltigen Verluste der Staatsbanken aufzufangen und das Bankensystem insgesamt wieder funktionsfähig zu machen. Banken sollen Kredite vergeben – und nicht an den Finanzmärkten das Geld der Steuerzahler verspielen.