Handelsblatt: Herr Professor Sinn, die G20-Gruppe kommt bei der Neuregelung der globalen Finanzmärkte kaum voran. Enttäuscht die Politik die Erwartungen?
Hans-Werner Sinn: Ja. Die Krise ist vergeudet worden. Der Schwung und die Bereitschaft für eine durchgreifende Bankenregulierung, die noch vor einem Jahr vorhanden waren, sind nicht mehr festzustellen. Die Banken machen wieder sehr schöne Margen und wollen nichts ändern. Die angelsächsischen Länder mauern, um ihre aufgeblähten Bankensysteme mitsamt der Hedge-Fonds und Private-Equity-Gesellschaften zu schützen.
HB: Wie hat die Krise die Ökonomenzunft verändert? Haben sich die herkömmlichen Lager der Keynesianer und angebotsorientierten Ökonomen aufgelöst?
Sinn: Ach, die Lager hat es in dieser Form ja nicht gegeben. Ich vermute, dass auch vor der Krise 90 Prozent der Ökonomen dem sogenannten neoklassischen Konsens zugestimmt haben. Danach sind in bestimmten Situationen keynesianische Rezepte angebracht, meistens aber nicht. Wir haben eine Krise, die im Finanzsektor begann und keynesianisch wurde, mit einer allgemeinen Investitionsund Nachfrageschwäche. Diese Krise mit keynesianischer Schuldenpolitik zu bekämpfen war genau richtig.
HB: Was haben die Ökonomen denn gelernt aus der Krise?
Sinn: Dass die Regulierung des Bankensystems nicht funktioniert hat und dass die Vorstellung, das Bankensystem könne sich selber regulieren, abwegig ist. Die Risiken, die die Banken eingehen, verursachen solche massiven externen Effekte auf den Rest der Weltwirtschaft, dass es einer international harmonisierten Regulierung bedarf. Das haben inzwischen alle eingesehen.
HB: Kritiker sagen, die Ökonomie müsse sich vom Menschenbild des Homo oeconomicus verabschieden. Die Krise habe gezeigt, dass die Märkte nicht so rational seien, wie es diesem Bild entspreche.
Sinn: Diese Position halte ich für falsch. Die Rationalität der Märkte ist etwas anderes als die Rationalität der Menschen. Auch wenn die Menschen individuell rational sind, sind es Gruppen von Menschen nur dann, wenn die richtigen Spielregeln gesetzt wurden. Die Finanzkrise glich einem Dschungelkrieg. Sie ist durch extremes Rationalverhalten der Banken und der Finanzjongleure im Zusammenhang mit fehlerhaften staatlichen Spielregeln voll und ganz zu erklären. Sie bestätigt die Kernbotschaft der Ökonomie, dass individuelle Rationalität nur dann zu kollektiver Rationalität führt, wenn man einen geeigneten Ordnungsrahmen hat. Darauf hat gerade der deutsche Neo- oder Ordoliberalismus stets gepocht, ganz im Gegensatz zu dem, was manche linke Ideologen im Feuilleton deutscher Zeitungen behaupten.
HB: Die Finanzkrise hat dazu beigetragen, die weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte zum Teil auszugleichen. Ist zumindest dieses Problem dank der Krise gelöst?
Sinn: Die unmittelbare Reaktion der Außenhandelssalden ist konjunkturell bedingt. In den USA ist der Import massiv eingebrochen, dadurch hat sich die Außenhandelsbilanz verbessert. In Deutschland blieb der Import relativ stabil, und der Export ist massiv eingebrochen. Diese großen Verschiebungen werden im Zuge der wirtschaftlichen Erholung wieder korrigiert werden. Wir kehren damit zunächst in die Richtung der gewohnten Salden zurück.
HB: Können wir diese Ungleichgewichte dauerhaft abbauen?
Sinn: Das geht nur, wenn die Länder ihre Wettbewerbspositionen verändern. Der Euro muss stark bleiben und der Dollar entsprechend schwach, damit die Amerikaner eine Exportindustrie aufbauen und ihnen die Importe zu teuer werden. Das dauert aber seine Zeit. Man muss mit einer Dekade rechnen.
HB: Eine solche Veränderung der Wettbewerbspositionen wird aber nicht ohne die Chinesen gehen.
Sinn: So ist es. China wird eine andere Strategie fahren müssen. Wenn das Land seinen Wechselkurs halten wollte, müsste es immer mehr US-Staatspapiere kaufen, um die Defizite der USA zu finanzieren. Die Abneigung gegen solche Papiere wächst aber, weil immer klarer wird, dass die USA ihre gigantischen Auslandsschulden kaum jemals werden zurückzahlen können. China hat die Wahl zwischen einer Verteuerung seiner Produkte und dem Erwerb von Wertpapieren, die immer unsicherer werden. Ich nehme an, China wird sich für den ersten der Wege entscheiden.
HB: Wie kann Deutschland seine Außenhandelsüberschüsse mit den EU-Partnern abbauen?
Sinn: Das ist nicht so einfach. Wir könnten inflationieren, um unsere Wettbewerbsfähigkeit zu reduzieren. Das ist ein frommer Wunsch der Länder, die nicht wettbewerbsfähig sind. Die sollen sich aber lieber selber anstrengen.
HB: Reicht das für Deutschland, gegenüber seinen EU-Partnern eine solche Haltung einzunehmen?
Sinn: Die südeuropäischen Länder leihen sich unser Geld, um sich mit dem Erwerb unserer Waren ein schönes Leben zu machen. Wir beliefern sie und erlauben ihnen anzuschreiben. Das kann nicht gutgehen. Eine Lösung dafür wäre, dass wir das Anschreiben nicht mehr zulassen, also bei der Kreditvergabe zurückhaltend sind und Griechenland jetzt im Regen stehen lassen. Das würde die deutschen Überschüsse im Außenhandel reduzieren, denn sie sind ja ein Spiegelbild der Kapitalbilanz. Aber das wollen diese Länder erst recht nicht.
HB: Ist damit das Latein erschöpft?
Sinn: Nein, wir können auch eine Binnenkonjunktur bei den Investitionen zu entfachen versuchen. Das ist für mich der Königsweg. Deutschland hat in den Jahren vor der Krise stets wesentlich mehr im Ausland als im Inland investiert. Wenn wir die Standortbedingungen für Investoren verbessern und diesem Land eine neue Dynamik geben, schrumpft der Außenhandelsüberschuss von ganz allein. Statt unsere Investitionsgüter per Kredit ans Ausland zu verkaufen, können wir sie auch per Kredit an inländische Investoren verkaufen, die den Kapitalstock hier endlich mal wieder aufbauen und neue Arbeitsplätze schaffen.
Heilmann, Dirk