Dirk Hinrich Heilmann München Handelsblatt: Herr Professor Sinn, die europäische Schuldenkrise sorgt für große Verunsicherung bei den Deutschen. Haben die Sparer zu Recht Angst um ihr Geld?
Hans-Werner Sinn: Ja, vor allem wegen der Steuern, die sie werden zahlen müssen. Weniger Angst hätte ich, dass eine lockere Geldpolitik Inflation erzeugt. Die Inflationsraten gehen in Europa derzeit eher zurück, als dass sie steigen. Es gibt allerdings einen Sondereffekt, der speziell in Deutschland Inflation erzeugen könnte.
Handelsblatt: Was meinen Sie?
Sinn: Folgendes Szenarium ist möglich: Das anlagesuchende deutsche Sparkapital weiß nicht mehr wohin. Es traut sich weder nach Amerika noch nach Griechenland und drängt ins Inland zurück. Dort finanziert es Immobilienkäufe, treibt deren Preise hoch, belebt die deutsche Bauwirtschaft und schafft wieder Wachstum. Sekundär zieht auch der Konsum an. Wir bekommen spiegelbildlich den Boom, den die Länder der europäischen Peripherie während der letzten eineinhalb Jahrzehnte hatten, weil es ihnen gelang, das deutsche Sparkapital anzulocken. Die relative Deflation, die wir in dieser Zeit durchlebten, schlägt in eine Inflation um, während es bei den Schuldensündern umgekehrt ist. Das wäre aber eine schöne Inflation. Frankreichs Finanzministerin Lagarde müsste sich nicht mehr über den deutschen Exportüberschuss ärgern.
Handelsblatt: Aber Sie sprechen im Konjunktiv.
Sinn: Aus gutem Grund. Das Rettungspaket für die hochverschuldeten Euro-Länder, das die EU-Finanzminister beschlossen haben, bremst diese erwünschte Korrektur einer für Deutschland problematischen Entwicklung, weil wir mit unseren Garantien den Abfluss der deutschen Ersparnisse künstlich erleichtern. Da das Rettungspaket nicht perfekt ist, wird die Korrektur hoffentlich nicht vollständig verhindert. Je stärker das Rettungspaket greift und die Zinsen innerhalb der Euro-Zone egalisiert, desto mehr Kapital fließt weiterhin aus Deutschland ab, desto geringer fällt hier das Wachstum aus und desto schmerzhafter wird die Sparpolitik in Deutschland sein.
Handelsblatt: Wo sollte die Bundesregierung mit ihren Sparmaßnahmen ansetzen?
Sinn: Da verweise ich auf die Subventionsliste des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, das über 100 Milliarden Euro Sparpotenzial nachgewiesen hat.
Handelsblatt: Haben wir denn eine realistische Chance, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse einzuhalten?
Sinn: Mit dem Euro-Rettungspaket wird das extrem schwierig. Zum einen, weil es das deutsche Wachstum bremst, und zum anderen, weil es nötig sein wird, die Bürgschaften durch Transfers zu ersetzen, damit sie nicht in Anspruch genommen werden müssen.
Handelsblatt: Dass sie kein Freund des Rettungsschirms sind, haben Sie in der vergangenen Woche ja mehr als deutlich gemacht. Was hat Sie zu Ihrer Brandrede motiviert?
Sinn: Ich fühlte mich vor der Geschichte und aus meinem Selbstverständnis als Wissenschaftler heraus verpflichtet, deutlich zu machen, welch gefährlichen Schritt wir da tun. Die Bundestagsabgeordneten sollten wenigstens wissen, was sie an ökonomischen Prozessen in Gang setzen. Keiner soll nachher sagen können, er habe es nicht gewusst.
Handelsblatt: Inzwischen hat der Bundestag dem Rettungsschirm zugestimmt. Was bedeutet das nun für die Euro-Zone?
Sinn: Mit unseren Garantien belohnen wir die Schuldensünder und ermuntern sie, ihr Tun fortzusetzen. Das bläht die europäische Schuldenblase weiter auf und lässt sie eines Tages mit einem noch größeren Knall platzen.
Handelsblatt: Muss das wirklich so ausgehen? Die Verhandlungen über einen neuen Stabilitätspakt mit strengeren Auflagen für Defizitsünder laufen doch.
Sinn: Nachdem der Bundestag dem Rettungspaket bereits zugestimmt hat, haben wir uns eines Druckmittels begeben, mit dem wir strenge Regeln hätten durchsetzen können. Man hätte die Entscheidung um einen Monat hinauszögern und in der Zwischenzeit einen wirksamen Stabilitätspakt für Europa aushandeln können, der unseren Vorstellungen entspricht.
Handelsblatt: Wie beurteilen Sie denn den Plan, mit dem Deutschland in die Verhandlungen geht?
Sinn: Es ist richtig, automatische Strafen und eine Art von Insolvenzordnung zu fordern. Wichtig ist, dass diese Ordnung nicht nach, sondern vor der Rettung greift. Zunächst müssen im Falle einer drohenden Insolvenz die Altgläubiger auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten, und erst dann darf Geld für die Sanierung fließen. Die Bundesregierung muss sich daran messen lassen, ob sie diese Reihenfolge durchsetzt oder ob sich stattdessen die Südländer durchsetzen, die sich dauerhaft niedrige Zinsen durch Euro-Bonds sichern wollen. Eine Insolvenzordnung, die erst nach weiteren Rettungsmaßnahmen greift, wäre nutzlos.
Handelsblatt: Werfen Sie der Bundesregierung insgesamt ein schlechtes Krisenmanagement vor?
Sinn: Die Bundesregierung hat das Portemonnaie zugehalten, bis Frankreichs Präsident Sarkozy mit der Kündigung der deutsch-französischen Freundschaft drohte. Dann musste sie nachgeben. Mich hat entsetzt, welche Summen zum Schluss auf den Tisch gelegt wurden, ohne dass von den Gläubigern der Staatspapiere ein Haircut verlangt wurde. Der Haircut hätte die Zinsspreizung nach der Bonität der Schuldnerländer erhalten und mehr Vorsicht bei der Kreditvergabe hervorrufen können. Mehr Geld wäre in Deutschland geblieben.
Handelsblatt: Hat sich die Bundesregierung überrumpeln lassen?
Sinn: Sagen wir es so: Die Südeuropäer und Frankreich haben die Krise dramatisiert, um den lang gehegten Wunsch nach Euro-Bonds durchzusetzen. Zum Glück gelang es der Bundesregierung, die Euro-Bonds auf drei Jahre zu befristen und ihre Ausgabe an die einstimmige Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit zu knüpfen. Der Bundestag durfte zum Schluss nur noch akklamieren, weil sonst die Koalition in Gefahr gewesen wäre. Die Hast war übertrieben.
Handelsblatt: Inwiefern?
Sinn: Der Spekulation, so es sie gab, hätte man auch durch ein rascheres Verbot der Leerverkäufe begegnen können. Es bestand kein Zwang, innerhalb von wenigen Stunden Vereinbarungen durchzupeitschen, die den Maastrichter Vertrag auf den Kopf stellen. Auch Bundestag und Öffentlichkeit wurde nicht genug Zeit für eine gründliche Diskussion gelassen.
Handelsblatt: Warum findet die Politik nicht die Sprache, um dem Bürger zu erklären, worin die Krise besteht und wie man sie zu bekämpfen gedenkt?
Sinn: Weil ihr diese Erklärung schwerlich gelingen würde. Die Bürger wissen auch, dass die wahren Spekulanten die überschuldeten Staaten und deren Gläubiger sind, weil sie Verträge zulasten Dritter machten, wohl wissend, dass man sie im Fall der Insolvenz nicht hängen lassen würde.
Handelsblatt: Alles in allem - wird der Euro stärker oder schwächer aus diesen Wochen hervorgehen?
Sinn: Die Staatschefs Europas haben lautstark verkündet, dass der Euro sich in einer Systemkrise befindet. Sie taten dies, damit sie sich auf Artikel 122 des EU-Vertrags beziehen konnten, nach dem die Europäische Union einem Land nur dann helfen darf, wenn sich dessen Probleme der eigenen Kontrolle entziehen. Niemand sollte sich wundern, wenn die Anleger der Welt ihnen glauben und nun aus dem Euro fliehen. Auch das gehört zu den Perversitäten der Politik dieser Wochen.
Heilmann, Dirk Hinrich