WirtschaftsBlatt: Herr Sinn, wie bewerten Sie den kürzlich erfolgten Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler? Welche Signale wurden durch diesen Schritt an die Finanzmärkte gesendet?
Hans-Werner Sinn: Dieser Rücktritt ist meiner Meinung nach bedauerlich, da ich Horst Köhler für einen sehr fähigen Präsidenten gehalten habe, der sehr bürgernah war. Er hat die Dinge so ausgesprochen, wie sie waren. Er war kein Vertreter der politischen Klasse und gerade deswegen enorm nützlich für Deutschland. Dass er zurückgetreten ist, ist natürlich ein weiteres Signal der Verunsicherung in dieser Zeit der Krise und zeigt, dass der politische Kurs, den Deutschland in dieser Krise fährt, nicht unstrittig ist. Leider ist Deutschland jetzt mit der Nachfolgediskussion statt mit der Neukonstruktion der EU nach der Krise beschäftigt.
Das Weltwirtschaftsklima hellt sich im Moment weiter auf, trotzdem ist für die meisten Regierungen in Europa die Konsolidierung des Staatshaushaltes angesagt. Besteht nicht die Gefahr, dass diese Sparpakete die Erholung der Konjunktur zum Erliegen bringen könnten?
Ja, aber noch größer ist die Gefahr, dass zu wenig gespart wird. Im Moment sind wir in einer Situation, wo die Staatsschulden die Bürger so enorm verunsichern, dass von neuen Staatsschulden keine wirtschaftliche Stabilisierung mehr ausgeht. Der Fehler, der während des letzten Aufschwungs gemacht wurde, war zu sagen, das reicht uns nicht, wir wollen mehr und dürfen deshalb den Aufschwung nicht kaputtsparen. Und dann kam schon wieder der nächste Abschwung, bevor überhaupt mit dem Sparen begonnen wurde. Deutschland erlebt zur Zeit einen überraschend starken Konjunkturaufschwung. Es ist genau der richtige Zeitpunkt, mit dem Sparen zu beginnen.
Griechenland musste ja einen Sparkurs akzeptieren, bevor das Land in den Genuss des 110 Milliarden-€ schweren Rettungspakets gekommen ist. Ist damit die Gefahr gebannt, und was passiert, wenn das Paket ausläuft?
Die Rettungspakete sind auf drei Jahre befristet. Dann wird sich das Problem wieder genau so stellen wie jetzt. Deshalb denkt die EU intensiv über Nachfolgelösungen nach. Diese können aber nicht einfach in der Verlängerung der bisherigen Rettungspakete liegen. Dazu sind sie zu schlecht konstruiert.
Sie haben sich ja deutlich gegen den von der EU beschlossenen Euro-Schutzschirm ausgesprochen.
Ich habe mich nicht gegen die Rettung grundsätzlich ausgesprochen. Ich habe mich dagegen ausgesprochen, dass die Gläubiger der Staaten, also meistens die Banken, nicht an der Lösung beteiligt werden. Bei einem privaten Konkurs ist es essentiell, dass die Gläubiger auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten, damit das erhaltene Geld zur Sanierung des Betriebes verwendet werden kann und die Gläubiger in Zukunft bei der Kreditvergabe vorsichtiger agieren. Beim jetzigen Rettungspaket wurde dies nicht berücksichtigt. Man hat für die Gläubiger quasi eine Vollkaskoversicherung ohne Selbstbehalt eingeführt. Der Selbstbehalt ist aber unerlässlich. Die Gläubiger eines Staates müssten für den Fall der Insolvenz eines Staates konkret auf einen wohldefinierten Teil ihrer Forderungen verzichten, und danach könnte man Hilfskredite anbieten. Dann könnten sich die Zinsen wieder in begrenztem Umfang nach der Bonität der Länder ausspreizen, ein bisschen so, wie es vor dem Euro der Fall war. Es gäbe Anreize zur vorsichtigen Kreditvergabe, quasi eine automatische Schuldenbremse, und doch könnte es in der Krise nicht zu einer Panik kommen. Panik entsteht nur, wenn Verluste drohen, die man vorher nicht für möglich hielt.
Würden Sie also ein fixes Insolvenzrecht für Staaten befürworten?
Ja, es braucht eine Regelung, die sich am Insolvenzrecht orientiert. Aber nicht in dem Sinn einer Regelung als ultima ratio, die greift, nachdem alle anderen Rettungspakete ausgelaufen sind. Es geht um eine klare Prozedur, wie zu verfahren ist, wenn ein Land die Hilfe der anderen Länder braucht. Ich halte es auch für einen großen Fehler, dass Deutschland das Gewährleistungsprogramm zur Griechenland-Hilfe so schnell ratifiziert hat. Die Franzosen haben das Programm immer noch nicht ratifiziert. Man hätte ein Konkursrecht für die Euro-Staaten und einen neuen Schuldenpakt noch vor der Ratifizierung verhandeln können. Dann hätte man noch eine Druckmittel gegenüber den Schuldenländern in der Hand gehabt.
Wie groß schätzen Sie die Chance ein, dass noch ein weiterer Staat faktisch Konkurs anmelden muss? So hat die Ratingagentur Fitch Ende Mai Spanien von einem AAA auf AA+ herabgestuft.
Ob nun gerade Spanien das nächste Opfer ist, weiß ich nicht. Das Land hat gar nicht so viele Schulden. Aber nach dem Auslaufen der Hilfen in drei Jahren könnten wir neue Überraschungen erleben. Griechenland kann sein Geld ganz sicher nicht zurückzahlen. Das Land hat ein Leistungsbilanzdefizit von elf Prozent. Auch das Defizit von Portugal liegt in dieser Größenordnung.
Braucht Europa denn nun eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, um künftige Krisen verhindern zu können?
In Frankreich wird dies oft gefordert, die Richtung der europäischen Wirtschaftspolitik soll geändert werden. Der Wettbewerb soll mehr den französischen Interessen genügen. Ich denke nicht, dass es zur Bewältigung der Krise eine europäische Wirtschaftsregierung braucht. Ich wüsste nicht, was diese Regierung hätte tun können, die Krise zu verhindern. Was es braucht sind strikte Schuldengrenzen. Diese können entweder durch politische Schranken, die bei Verletzung bestraft werden, forciert werden oder dadurch, dass der Kapitalmarkt selbst in die Pflicht genommen wird. Nämlich dadurch, dass die Rettung stets mit einer Umschuldung verbunden wird. Dann passen die Gläubiger auf, wem sie ihr Geld vergeben. Diese Selbstkontrolle der Gläubiger darf man nicht außer Kraft setzen.
Ist der Euro in den vergangenen Wochen zum Spielball politischer Interessen geworden?
Der Euro sollte eine gemeinsame Währung sein, kein gegenseitiges Schutzversprechen für den Fall der Überschuldung. Das ist im Maastrichter Vertrag ausdrücklich so festgelegt worden. Es gibt die 'no bail out'-Klausel, also dass man nicht füreinander haftet. Es gibt das Verbot für die Zentralbank, die Staaten mit neugedrucktem Geld zu finanzieren und es gibt den Katastrophenparagraphen 122 des Lissabon-Vertrages. Nach diesem Paragraphen sind Hilfen nur zulässig, wenn es sich um Probleme handeln, in die Staaten nicht selbstverschuldet geraten. Damit waren allerdings Naturkatastrophen und keine Schuldenkrisen gemeint. Damit dieser Paragraph in Anspruch genommen werden konnte, haben sich die Staatschefs der EU semantisch darauf versteift, dass es sich um eine Systemkrise des Euro an sich gehandelt habe und nicht nur um eine Krise der überschuldeten Länder. So konnte das Rettungspaket rechtlich überhaupt geschnürt werden. Nun darf man sich nicht wundern, wenn die Welt den Staatschefs glaubt und der Euro noch mehr unter Druck gerät. Trotz der Krise hatte der Euro am 8. und 9. Mai, als der drohende Untergang des Euro beschworen wurde, noch deutlich über der OECD-Kaufkraftparität gelegen. Nach der Ausrufung der Systemkrise droht er nun indes, unter diese Parität zu fallen.
Sie haben vom Maastrichter Vertrag gesprochen. Müsste aktuell nicht eine Nachfolgeregelung dafür gefunden werden? Die Staatsverschuldung bei den meisten Ländern liegt ja viel höher als die erlaubten 60 Prozent.
Fast alle EU-Länder verletzen den Stabilitäts- und Wachstumspakt, denn ihre Defizite liegen über 3 Prozent des BIP: Bei vielen übersteigen die Schuldenbestände zudem die 60 Prozent-Grenze des Maastrichter Vertrages. Nun sind eigentlich saftige Strafen fällig. Strafen spricht der ECOFIN-Rat der Finanzminister aus, und wer sind Straftäter? Die EU-Finanzminister, die eben diesen ECOFIN-Rat ausmachen. Straftäter und Richter sind identisch. Sie können sich vorstellen, wie hoch die Strafen ausfallen werden. Dieses System ist offenbar eine Lachnummer. Es braucht automatisierte Strafen, die sich der politischen Kontrolle entziehen. Dabei kann es nicht um Bargeldstrafen gehen. Das funktioniert deswegen nicht, weil die hoch verschuldeten Länder ja kein Geld haben.
Was wäre denn eine angemessene Strafe?
Zum Beispiel der Entzug von Stimmrechten, oder die Sperre von EU-Mitteln. Wenn es um Vermögensstrafen geht, dann können das auch Strafen in Form von Pfandbriefen sein, die besichert sind mit privatisierbarem Staatsvermögen.
Wie groß ist der Rückhalt für eine solche Idee in Europa?
Der Rückhalt ist natürlich klein. Bei den potentiellen Straftätern besteht keine Sehnsucht nach Bestrafung, und da diese Länder über viele Stimmrechte verfügen, machen sie ihr politisches Recht geltend, um dagegen zu opponieren. Das Schwierige an dieser Situation ist, dass Deutschland ziemlich alleine steht, weil Deutschland die niedrigsten Zinsen und die höchste Bonität genießt. Fast alle anderen Länder sind daran interessiert, mit ihren Zinsen auf das deutsche Niveau herunterzukommen. Da hat Deutschland fast alle anderen Länder gegen sich.
Wie müsste der neue Maastrichter Vertrag ausschauen?
Im Prinzip können die Drei-Prozent-Grenze für die jährliche Neuverschuldung und die 60 Prozent- Grenze für die Staatsverschuldung bestehen bleiben. Wenn ein Land aber dann mehr Schulden hat als diese 60 Prozent des BIP, dann gibt es für je zehn Prozentpunkte Abweichung einen Abzug von einem Punkt bei der Drei-Prozent-Grenze. Hat jemand zum Beispiel 80 Prozent Schulden, dann dürfte er sich um maximal ein Prozent neu verschulden statt um drei. Zudem braucht es in Europa eine Staatsanwaltschaft. Diese muss Vertragsverletzungen verfolgen und vor den europäischen Gerichtshof zur Anklage bringen. So hat zum Beispiel Griechenland in der Vergangenheit seine Zahlen gefälscht. Es wird behauptet, dass EUROSTAT und die Politik schon länger davon wussten und davor die Augen verschlossen haben. - Alle diese Dinge sind doch ein Unding. Die Politik muss hier kontrolliert werden.
Also keine gemeinsame Wirtschaftspolitik, aber trotzdem eine übergeordnete Kontrollinstanz?
Ja, wir brauchen ein Rechtssystem für das Verhalten von Staaten, welches auch Regeln für Strafen vorsieht. Die Wirtschaftsregierung ist überhaupt keine Lösung, das ist bloße Semantik. Mir hat noch kein Mensch klar machen können, warum eine Wirtschaftsregierung diese Systemkrise verhindert hätte.
Ebenfalls viel diskutiert wird dieser Tage zum Thema Bankenregulierung. Was muss da Ihrer Meinung nach passieren?
Es muss sehr viel passieren, bis jetzt ist leider aber nur sehr wenig geschehen. Was wir letztlich brauchen ist ein neues Basel-System. Dieses legt ja fest, wie viel Eigenkapital welchen Geschäften zu unterlegen ist. Ich halte dieses System für verwirrend, man könnte fast sagen, es ist eine Mogelpackung. Dort wird mit sogenannten risikogewichteten Aktiva gearbeitet. Die Ausleihungen und Anlagen der Banken werden mit Risikofaktoren multipliziert. Diese Faktoren sind fast alle kleiner als eins. Das hat nun zur Folge, dass die Summe der risikogewichteten Aktiva nur ein Bruchteil der Bilanzsumme ist. Und dann teilt die Bank ihr bisschen Eigenkapital durch die Summe dieser Aktiva und stellt fest, dass eine wunderschöne Kernkapitalquote herauskommt, die viel mehr vorgaukelt, als wirklich da ist. Bei manchen Banken ist die Kernkapitalquote fünfmal so groß wie die tatsächliche Eigenkapitalquote, wenn man das Eigenkapital durch das Bilanzvolumen teilt. Das Basel-System hat gegenüber der Vor-Basel-Zeit definitiv zu einer Verringerung des Eigenkapitals bei den Banken geführt und die Krisenanfälligkeit des Bankensystems erheblich verstärkt.
Also das Gegenteil davon, was damit eigentlich erreicht werden sollte?
Ja, man dachte, es würde mehr Sicherheit schaffen. Das Gegenteil war aber der Fall. Den Banken selbst wurde auch viel zu viel Spielraum gegeben. Diese durften die Risikoklassen ihrer Anleihen selber bestimmen. Es wurde ein komplexes, kaum überschaubares System geschaffen, was in dieser Form nur erhebliche Systemunsicherheit gebracht hat. Man muss das Basel-System grundsätzlich überholen, es dramatisch vereinfachen und nur noch ganz wenige Risikoklassen unterscheiden. Die Risikogewichte müsse so hoch gesetzt werden, dass per Saldo in Zukunft ein Vielfaches an Eigenkapital gehalten wird. Damit hätten die Banken einen größeren Puffer, wenn die nächste Krise kommt, und müssen nicht gleich Insolvenz anmelden. Vor allem hätten sie einen Anreiz, vorsichtig zu wirtschaften und nicht zu viel ins Risiko zu gehen, denn sie haben ja mehr Eigenkapital zu verlieren, wenn es schief geht.
Braucht es denn auch eine europäische Ratingagentur? In der EU wird ja noch diskutiert, ob und in welcher Form eine solche Agentur geschaffen werden soll.
Ja, unbedingt. Die amerikanischen Ratingagenturen steckten mit den US-Investmentbanken unter einer Decke. Sie ließen sich für die Bewertung der Produkte von den Banken bezahlen. Da wurde fast wie bei Alchemisten Gold aus Blei gemacht. Immobilienkredite mit der Durchschnittsnote B wurden durch geschickte Restrukturierung zu 70 Prozent in AAA-bewertete strukturierte Wertpapiere verwandelt - das grenzt schon an Alchemie.
Wie müsste denn eine europäische Agentur ausschauen?
Es sollte ein privates System von europäischen Ratingagenturen sein. Möglich wäre eine staatliche Unterstützung. Es geht ja um eine Aufgabe im öffentlichen Interesse, und da ist es in jedem Fall besser, dass der Steuerzahler das Rating bezahlt, und nicht die Emittenten der Wertpapiere. Bezahlen die Emittenten das Rating, besteht immer die Gefahr, dass die Bewertung zu großzügig ausfällt.