ZEIT ONLINE: Herr Sinn, die Konjunktur in Deutschland läuft ausgesprochen gut, aber viele Bürger sind unzufrieden. Sie trauen weder der Erholung am Arbeitsmarkt, noch glauben sie, dass der Aufschwung ihnen Gutes bringt. Was läuft falsch?
Hans-Werner Sinn: Das lässt sich einfach erklären: Die Jobs, die zuletzt entstanden sind, haben vor allem die Situation der Arbeitslosen verbessert. Das waren zwar Hunderttausende von Menschen, aber doch nur eine kleine Minderheit.
Bert Rürup: Der Aufschwung kann außerdem noch nicht überall angekommen sein. Noch sind die Löhne nicht auf breiter Front gestiegen. Aber das wird geschehen, und zwar deutlicher als in vergangenen Jahren.
ZEIT ONLINE: Was hat zum Beispiel eine ungelernte Kassiererin davon, die seit Jahrzehnten nichts vom Aufschwung hatte?
Sinn: Der Aufschwung wird diesmal auch bei den Ungelernten ankommen. Wir hatten eine lange Flaute bei den Löhnen, das stimmt. Ich erkläre das damit, dass jahrelang Kapital aus Deutschland abgeflossen ist. Der deutsche Standort war relativ zu anderen Ländern ständig im Nachtteil. Im Schnitt wurde nur ein Viertel der Ersparnisse in Deutschland investiert, drei Viertel gingen ins Ausland. Entsprechend gering war der Spielraum für Lohnerhöhungen. Diesmal aber ist das anders. Die Banken trauen sich nicht, ihr Geld nach Griechenland oder in die USA zu bringen, sondern vergeben eher im Inland Kredite. Die Baubranche erlebt dadurch teilweise einen rasanten Aufstieg, die Investitionsgüterbranchen florieren. Es zeichnet sich ein Mangel an Fachkräften ab, der das Lohnniveau insgesamt nach oben treiben wird.
Rürup: Ich sehe das differenzierter. Die Lohnstückkosten sind in den vergangenen Jahren nicht gestiegen, allerdings nicht wegen der Branchen, die im internationalen Wettbewerb standen. Dort haben die Löhne sogar zum Teil ganz ordentlich angezogen. Stagniert sind die Lohnstückkosten deshalb, weil der Niedriglohnsektor gewachsen ist. Die Reallöhne sind dort zum Teil sogar gefallen.
Sinn: Ja, aber das widerspricht meinem Argument nicht. Ich habe keinesfalls nur die Branchen mit internationalem Wettbewerb gemeint. Es war vor allem die Binnenwirtschaft, der das Kapital entzogen wurde. Denken Sie nur an die Bauindustrie.
Rürup: Schön, aber an diesem Punkt unterscheiden wir uns dennoch. Wenn ich Sie in der Vergangenheit richtig verstanden habe, würden Sie es in Kauf nehmen, wenn der Niedriglohnsektor weiter wächst. Im Kern lautet Ihr Argument doch, dass die Löhne am unteren Rand so lange weiter sinken müssten, bis wir dann irgendwann Vollbeschäftigung haben.
Sinn: Die Löhne für gering Qualifizierte müssen nicht weiter sinken, denn das haben sie schon getan. Angesichts des Booms steht jetzt eine Phase der Lohnsteigerungen bevor – auch am unteren Rand der Einkommensverteilung. Ich sage aber auch: Die Löhne müssen sich weiterhin stärker spreizen, wenn wir die Arbeitslosigkeit weiter abbauen wollen. Das sollte in den nächsten Jahren über stärkere Lohnsteigerungen bei den oberen und mittleren Einkommen geschehen.
Rürup: Das höre ich von Ihnen ja zum ersten Mal. Ich habe aber auch meine Zweifel, ob sich die Lohnspreizung beliebig fortsetzen lässt. Ich stimme Ihnen zu, dass wir einen Niedriglohnsektor brauchen, um die Beschäftigungschancen von Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten zu verbessern. Aber ich kann nicht erkennen, warum in der heutigen Situation ein noch größerer Niedriglohnsektor ökonomisch sinnvoll wäre.
Sinn: Wenn wir ihn durch Ausbildung verkleinern können, bin ich auch dafür. Tatsache ist aber doch: Der Niedriglohnsektor, der durch die Schröderschen Reformen geschaffen wurde, hat Deutschland neue Dynamik gebracht. Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können, und dann genug zum Leben haben. Die Reformen haben uns dem näher gebracht. Deutschland war über Jahrzehnte hinweg Weltmeister bei der Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten. Mit den Hartz-Reformen hat sich die Situation verbessert. Die Armutsgefährdung ist deutlich zurückgegangen, weil neue Jobs geschaffen wurden. Selbst wer heute wenig verdient, kommt über Lohnzuschüsse auf ein Einkommen, das über der Armutsgefährdungsgrenze liegt. Die Agenda 2010 war in jeder Hinsicht eine Erfolgsgeschichte.
ZEIT ONLINE: Herr Rürup, anders als Herr Sinn plädieren Sie für einen gesetzlichen Mindestlohn, der regelt, ab welchem Lohn in Deutschland gearbeitet werden darf. Warum?
Rürup: Weil ein moderater gesetzlicher Mindestlohn besser wäre als branchenspezifische Mindestlöhne, wie wir sie derzeit haben. Da stimmen Herr Sinn und ich auch überein. Ich will aber außerdem, dass jeder alleinstehende Vollzeitbeschäftigte ein Arbeitseinkommen erzielen sollte, das zumindest das soziokulturelle Existenzminimum deckt. Das sieht Herr Sinn anders.
Sinn: Langsam. Wünschenswert finde ich das auch. Die Frage ist doch nur, wie kommen wir von der Norm zum Machbaren. Da sagen Sie: Das geht. Ich sage: Das geht nicht. Ich kann nicht die Gesetzmäßigkeit in der Marktwirtschaft erkennen, die garantiert, dass für alle Leute genug Jobs da sind. Noch dazu solche, die so produktiv sind, dass man davon auskömmlich leben kann. Die Menge an tollen Stellen reicht einfach nicht aus. Mein Problem mit dem Mindestlohn ist, dass er Arbeitsplätze vernichtet. Er macht die Geschäftsmodelle wieder kaputt, die dafür gesorgt haben, dass zuletzt neue Jobs entstanden sind. Das belegen zahlreiche Studien.
Rürup: Mir scheint, jeder zitiert an dieser Stelle die Untersuchung, die ihm passt. Die empirische Evidenz ist nicht so eindeutig. Ich bestreite auch gar nicht, dass zu hohe Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten können. Mir geht es darum, einen moderaten Mindestlohn zu finden, der keine relevanten negativen Beschäftigungseffekte hat. Und ich will ihn gegebenenfalls so vorsichtig erhöhen, dass keine Arbeitsplätze verschwinden. Ein gutes Beispiel ist doch Großbritannien.
Sinn: Nein, ein schlechtes. Die Mindestlohnstrategie in Großbritannien hat mit zum Niedergang des Landes beigetragen.
Rürup: Moment! Wir reden hier nicht über das Großbritannien der sechziger und siebziger Jahre. Heute regelt dort eine unabhängige Kommission, wie hoch der Mindestlohn ist – nicht die Politik. Der Sachverständigenrat hat 2005 untersucht, in welchem Land es die größten Beschäftigungszuwächse gab. Die Antwort lautete: Großbritannien und die Niederlande. Beide Länder haben einen moderaten Mindestlohn. Im Übrigen sind gesetzliche Lohnuntergrenzen innerhalb der OECD-Staaten heute die Regel – nicht die Ausnahme. Und sie sind definitiv nicht der Grund für zu hohe Arbeitslosigkeit!
Sinn: Einspruch! Schauen Sie nach Frankreich. Dort hat der Mindestlohn die Jugendarbeitslosigkeit in die Höhe getrieben, und in den Vorstädten brennen die Schulbusse.
Rürup: Frankreich ist ihr Paradebeispiel, das der Befürworter eines Mindestlohnes ist Großbritannien. Es kommt eben auf die Höhe an.
Sinn: In Großbritannien liegt er – je nach Wechselkurs – bei etwa sieben, acht Euro.
Rürup: 6,51 Euro.
Sinn: Mag sein. Sie werden im Gegenzug aber nicht bestreiten, dass die Briten derzeit ein großes Beschäftigungsproblem haben. Aber wir sind uns ja einig: Ein Mindestlohn von vier, fünf Euro wäre vermutlich kein Problem. Damit könnten Formen der Ausbeutung bekämpft werden, die es sicherlich an einigen Stellen gibt.
Rürup: Aha. Ich darf also festhalten, dass ein Mindestlohn von rund fünf Euro mit Ihnen zu machen wäre.
Sinn: Ich will mich auf die Höhe nicht festlegen. Es stimmt schon, dass es theoretisch einen ungefährlichen Mindestlohn gibt. Das Problem ist nur, dass weder Sie noch ich diesen Lohn garantieren können. Wenn der Staat einmal anfängt, den Lohn festzulegen, dann überbieten sich die Parteien, und der Lohn schießt nach oben. Das ist das wahre Problem.
Rürup: Die Furcht kann man teilen. Wenn man aber solche Befürchtungen hat, dann müsste man allerdings auch eine tiefe Skepsis haben, dass die deutsche Politik überhaupt reformfähig ist. Wenn ich mir ansehe, was in den Jahren 2003 bis 2007 an Reformen umgesetzt wurde, dann wäre es bei Ihrem politikökonomischen Skeptizismus niemals dazu gekommen.
Sinn: Jetzt greifen Sie aber tief in die Trickkiste.
Rürup: Ich nehme Ihnen nur Ihre Angst!
ZEIT ONLINE: Ist es wünschenswert, dass der Staat derzeit hunderttausenden Menschen aufstockende Leistungen zu Hartz IV zahlt, weil der Lohn allein nicht reicht?
Rürup: Das Aufstocken ist im Grundsatz in Ordnung. Dennoch sehe ich hier ein starkes Argument für den Mindestlohn. Natürlich rechnen rationale Arbeitgeber die Lohnsubvention im Niedriglohnbereich mit ein und drücken so die Löhne. Ein moderater Mindestlohn sorgt dafür, dass die finanzielle Unterstützung des Staates, die eigentlich den Arbeitnehmern helfen soll, nicht mehr teilweise den Arbeitgebern zufließt. Das würde auch die fiskalische Belastung des Staates verringern. Deshalb werden auch in vielen Ländern Kombilöhne mit Mindestlöhnen flankiert. Hinzu kommt noch ein anderer Vorteil: Arbeitslose hätten einen größeren Anreiz, eine reguläre Beschäftigung anzunehmen.
Sinn: Das ist doch nicht das Problem. Die Leute wollen arbeiten, es fehlt nur an Jobs! Wir sind uns ja einig, dass Kombilöhne nötig wären, wenn man den Mindestlohn einführen würde. Dabei müsste es sich aber um Kombilöhne handeln, die nicht den Arbeitnehmern, sondern den Unternehmen gezahlt werden, damit die Lohnkosten unter die Mindestlöhne fallen. Ich fände es jedoch besser, die Lohnzuschüsse direkt an die Betroffenen zu zahlen und auf Mindestlöhne zu verzichten. So geschieht es derzeit im Rahmen der Hartz-Gesetze. Ich würde das Lohnzuschusselement ausbauen, indem ich die vorhandenen Möglichkeiten für Zuverdienste erweitere. Wir machen so Jobs wieder möglich, die durch den Sozialstaat alter Art vernichtet wurden! Und zwar, ohne dass die Betroffenen mit weniger Einkommen auskommen müssen.
Rürup: Sehen Sie nicht das Problem, dass ein Arbeitgeber die Löhne drückt, wenn er weiß, dass der Staat anschließend aufstockt?
Sinn: Aber das wäre bei einem Kombilohn, der auf Lohnzuschüssen für die Unternehmen basiert, doch genauso!
Rürup: Ja, aber das heutige System verleitet geradezu dazu, die Hilfen des Staates abzugreifen. Wenn in Ostdeutschland auf eine Stelle 20 Bewerber kommen, ist es doch selbstverständlich, dass der Arbeitgeber den Lohn niedriger ansetzt, wenn er rational handelt. Deshalb argumentiert auch die OECD, dass es klug ist, Kombilöhne mit einem moderaten Mindestlohn zu flankieren. Das senkt die Kosten des Staates.
Sinn: Das sehe ich ein wenig anders. Überlegen Sie mal, wie es vor Schröder war. Da hatte Deutschland einen Mindestlohn. Das bestand in einem Lohnersatzeinkommen, dass der Staat zur Verfügung gestellt hat, durch die Sozialhilfe und auch die Arbeitslosenhilfe. Für jeden Euro, den man selbst verdiente, hat der Staat einen Euro abgezogen. Das brachte eine Massenarbeitslosigkeit, die unheimlich viel Geld gekostet hat. Schröder hat diesen Mindestlohn gesenkt, indem er weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen gezahlt hat. Das hat das Jobwunder ermöglicht. Jetzt können Sie doch nicht das Verhalten der Unternehmer, das darauf hinaus läuft, dass wir Beschäftigungserfolge erzielen, als Problem darstellen.
ZEIT ONLINE: Das Argument lautet doch, dass Unternehmen höhere Löhne zahlen würden, wenn die Kräfteverhältnisse am Arbeitsmarkt andere wären.
Rürup: Natürlich ist das so! Es gibt das Phänomen der monopsonistischen Ausbeutung.
ZEIT ONLINE: Das müssen Sie erklären.
Rürup: Ein Monopson ist ein Nachfragemonopol, bei dem es nur einen Nachfrager gibt. Der Arbeitgeber auf einem solchen Markt hat die Macht, mit staatlicher Hilfe die Löhne zu drücken. Und zwar unter das Niveau, das der Produktivität der Beschäftigen entspricht.
Sinn: Ich halte das für ein falsches Argument. Selbst in der kleinsten Gemeinde gibt es nicht einen einzigen Arbeitgeber, auf den die Leute angewiesen sind, um die es hier geht. Wir reden hier im Wesentlichen über Geringqualifizierte. Das sind eben nicht spezialisierte Arbeitnehmer, die auf einen speziellen Arbeitgeber angewiesen sind. Sie haben immer die Wahl zwischen verschiedenen Unternehmen und auch Privathaushalten.
Rürup: In manchen Teilen Deutschlands mag das stimmen. Aber es gibt diese Situationen in den neuen Ländern durchaus.
ZEIT ONLINE: In der Debatte über die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze haben einige argumentiert, dass die Leistungen nicht steigen dürfen, weil dadurch die Anreize sinken, Arbeit aufzunehmen. Gerät da nicht der Sozialstaat mit falschen Argumenten unter Druck?
Rürup: Ich denke, dieses Argument überzeugt nicht. Das Grundgesetz verpflichtet uns, jedem Bürger in allen Lebensphasen das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Es kann nicht angehen, die Sätze mit dem Hinweis auf ein Lohnabstandsgebot künstlich niedrig zu halten. Zumal, wenn über Hartz IV der Niedriglohnsektor ausgedehnt werden soll.
Sinn: Da bin ich Ihrer Meinung. Der Staat sollte definieren, wie hoch das soziokulturelle Existenzminimum ist. Das Lohnabstands-Argument habe ich in diesem Zusammenhang noch nie verstanden.
Rürup: Ich auch nicht, und trotzdem haben wir da ein Problem. Die Regelsätze werden nun mal so berechnet, dass die Gebrauchsgewohnheiten des unteren Einkommensfünftels der Gesellschaft herangezogen werden. Wenn ich nun die Lohnskala nach unten immer weiter öffne, entsteht doch Druck auf das soziokulturelle Minimum, weil die Sätze durch die Berechnungsmethode tendenziell sinken. Das hat dann im Übrigen auch Auswirkungen auf die Empfänger von Fürsorgeleistungen, die überhaupt nicht arbeiten können. Das können Sie doch nicht wollen!
Sinn: Nein, und faktisch ist es auch nicht so. Die Daten zeigen, dass im unteren Fünftel der Einkommensverteilung fast ausschließlich Rentner und Transferempfänger sind. Dort gibt es kaum normale Lohnempfänger, außer solchen mit ergänzendem Hartz-IV-Einkommen. Diese lässt man bei der Berechnung jedoch auch weg, um Zirkelschlüsse zu vermeiden. Unter dem Strich heißt das, dass der Staat den Hartz-IV-Empfängern in etwa das gibt, was die Rentner bekommen.
Rürup: Nicht ganz. Die Rentner, die Grundsicherung im Alter erhalten, fallen bei der Berechnung auch raus. Wie dem auch sei: Ihre These ist also, wir können beliebig niedrige Löhne machen, ohne dass die Hartz-IV-Sätze unter Druck geraten?
Sinn: So ist es. Und selbst wenn es so wäre, müsste man eben die Berechnungsmethode ändern. Das ist alles kein Argument für den Mindestlohn. Ich bleibe dabei: In einer Volkswirtschaft haben Löhne eine Lenkungsfunktion, sie sind Preise, die Knappheiten anzeigen. Preise darf der Staat nicht manipulieren. Wenn er Umverteilung machen will, muss er das über das Steuersystem tun. Nicht, indem er in die Preisstruktur eingreift.
Das Gespräch führte Philip Faigle.